HEINZ  B. HEIDT

       

HELOTEN  IM  EIGENEN  LANDE

 

Hunger, Frust und Zwangsarbeit auf der „Rhein-Main Airbase“

 

 

Auf den üblichen Preston Army Trucks, die wir zu jeweils 30 Mann zusammen mit einem grimmig dreinschauenden serbischen „Spezialposten“ besteigen müssen, verlassen wir am Nachmittag des ersten Adventsonntags – es ist der 2. Dezember 1945 – unser provisorisches Lager auf dem Fliegerhorst bei Giebelstadt. Bei strömendem Regen fahren wir zunächst über Giebelstadt nach Würzburg; von dort geht es dann ohne Aufenthalt weiter über Üttingen, Erlenbach, Marktheidenfeld, Esselbach, Hessenthal, Heibach, Aschaffenburg und Hanau nach Frankfurt, wo wir mit dem Einbruch der Dunkelheit ankommen. Wir fahren durch die zerbombte Stadt in südwestlicher Richtung und stehen nach einer guten halben Stunde Fahrtzeit plötzlich vor dem Tore eines Gefangenenlagers.

 

Während wir grundsätzlich normal gefärbte amerikanische Heereskleidung und nur einen schwarz gefärbten Drillichanzug besitzen, laufen hier, wie wir trotz der spärlichen Beleuchtung erkennen können, alle Lagerinsassen in schwarzen Sachen herum. Auf unsere Frage, wo wir denn eigentlich seien, sagt uns einer: „Auf dem Rhein-Main Flughafen.“

 

Das Lagertor, vor dem wir anhalten, wird flankiert von zwei Gebäuden: rechts vom Eingang steht – wie wir später erfahren – die Wohnbaracke des Lagerkommandanten, links eine Besuchsbaracke. Im Lager selbst kann man drei Reihen zu je zwölf Holzbaracken erkennen. Am Anfang jeder Reihe  gibt es jeweils eine Küchenbaracke und am gegenüberliegenden Ende eine Wasch- und WC-Baracke. Die Einfriedigung des Lagers besteht aus einem einfachen Maschendrahtzaun, der jedoch oben mit drei Reihen Stacheldraht gesichert ist.

 

Nun kommt ein schwarz gekleideter Insasse des Lagers zu uns heraus, begrüßt unseren Kompanieführer, der zur braunen Amihose noch seine blaue Marinejacke mit goldenen Knöpfen trägt, per Handschlag und erklärt uns dann, daß hier ursprünglich drei deutsche Arbeitskompanien untergebracht waren, die aber durch laufende Entlassungen derart zusammengeschrumpft seien, daß sie durch uns wieder auf ihre alte Sollstärke gebracht werden sollen. Allerdings sollen wir nicht in die drei Restkompanien eingegliedert, sondern als „Utsch-Kompanie“ bestehen bleiben. Unsere offizielle Bezeichnung, unter der wir seit Bolbec in der US Army geführt werden, erfahren wir hier zum ersten Mal, weil sie unverändert bestehen bleibt. Sie lautet: „German 8050th Labor Service Company, APO 633, US Army“. Wir haben – was wir bisher überhaupt nicht wußten – sogar eine feste Anschrift, das Feldpostamt 633. Obwohl wir in der US-Bürokratie weiterhin als geschlossene Einheit geführt werden, werden wir hier nicht gesondert untergebracht, sondern beim Arbeitseinsatz, bei der Unterkunft und Verpflegung den Kadern der hier ansässigen drei Kompanien zugeordnet.

 

Zufällig kommt die alte Besatzung des Zeltes 7 aus dem „Camp Philip Morris“ hier in die Baracke 7 des Frankfurt-PWE (Prisoner of War Enclosure). Da wir wegen der Flucht unseres Zeltältesten aus Giebelstadt nur noch neun Mann sind, werden uns noch elf weitere Mitgefangene zugewiesen, damit die 20-Mann-Baracke voll belegt ist. Der einzige Bekannte unter ihnen ist der Sanitäter Anton Huhn, der in Le Havre bekannt war wie ein bunter Hund. Hier wird er mein Bettnachbar zur Linken. Allerdings sind noch keine Betten vorhanden. Die uns zugewiesene Baracke enthält lediglich einen Kanonenofen und eine Kiste für Brennmaterial in der Mitte. Zu beiden Seiten davon stehen in der Längsrichtung der Baracke jeweils ein Tisch und zwei Bänke. Also sollen wir wohl mit dem Kopf zur Außenwand und den Füßen zur Mitte auf dem Holzfußboden schlafen.

Während wir noch ratlos herumstehen, kommt der Kompanieführer der 1846th LSCO, der wir hier zugeteilt worden sind, herein, stellt sich kurz vor und erklärt uns, daß in ein paar Tagen amerikanische Feldbetten geliefert werden. Zwei Leute, die er mitgebracht hat, verteilen Wolldecken und Schlafsäcke. Danach fordert uns der Kompanieführer auf, zur Küche zu gehen und uns eine warme Mahlzeit zu holen. Dort verpaßt uns der „Küchenbulle“ einen Schlag Milchsuppe, die so steif ist, daß ein Löffel darin stehen kann, eine gehörige Portion aus Eipulver bereitetes Rührei und einen Becher Kaffee, so daß wir die K-Ration, die wir von Giebelstadt als Marschverpflegung mitbekommen haben, erst einmal in Reserve halten können.

 

So entpuppt sich das uns angedrohte „Straflager“ als ein ganz normales PW-Arbeitslager. Wir werden von einer Küche verpflegt, die von einem Feldkoch verwaltet wird, so daß uns hier eine Mischung aus US-Verpflegung und gewohnter Wehrmachtskost angeboten wird. Besondere Delikatessen wie in Frankreich haben wir hier allerdings nicht zu erwarten, weil es weit und breit keine Ami-Küche gibt, bei der wir etwas „abstauben“ könnten. Wir sind also wie in Giebelstadt auch hier auf die reine Lagerverpflegung angewiesen. So kommt es, daß wir sehr schnell unser Übergewicht verlieren, das wir uns in Frankreich regelrecht „angefressen“ haben.

 

Montag, der 3. Dezember, der erste Tag im neuen Lager, fällt recht trübe aus. Den ganzen Tag über bleibt der Himmel wolkenverhangen, zum Regnen kommt es allerdings nicht. Offenbar hat es bei der Organisation Schwierigkeiten gegeben, denn für die Arbeit sind wir noch nicht eingeplant. So können wir uns das Lager etwas näher ansehen. Als erstes fällt uns auf, daß es hier keine Wachttürme gibt und nur ein Posten am Tore steht, der – wie es scheint – jedoch eher das Amt eines Pförtners versieht. Die von dem Maschendrahtzaun eingerahmten drei Barackenreihen waren die Unterkünfte der ursprünglich hier untergebrachten drei Kompanien. Sie haben keine Namen, sondern werden in der Heeresbürokratie der US Army unter bestimmten Ordnungsnummern geführt. So werden wir von der „1846th German Labor Service Company“ betreut, während alle drei Kompanien unter der Aufsicht der amerikanischen „1878th Labor Supervision Company, APO 126, US Army“ stehen, die auch hier nur aus fünf Personen besteht: einem Oberleutnant als Kompaniechef, einem First Sergeant als „Spieß“ und drei niedrigeren Dienstgraden als Posten und für Verwaltungsaufgaben. Mit unserem Stabsfeldwebel Utsch gibt es im Lager jetzt vier deutsche Kompanieführer.

 

Wie man uns vertraulich mitteilt, duldet der Lagerkommandant stillschweigend, daß wir Briefe schreiben und empfangen können. Jeden Morgen kommt nämlich ein Mannschaftstransporter, der die Leute, die sich krank gemeldet haben, zum Bürgerhospital nach Frankfurt bringt. Am Nachmittag bringt er dann diejenigen, die nicht aufgenommen, sondern nur ambulant behandelt wurden, ins Lager zurück. Dabei nimmt der Fahrer jeden Morgen die Post mit nach Frankfurt und bringt sie zur Weiterbeförderung zur zivilen Deutschen Post. Nachmittags bringt er dann die für uns im Bürgerhospital eingegangene Post mit ins Lager. Mit dem Krankenhaus ist nämlich für uns eine besondere Anschrift vereinbart worden. In meinem Falle lautet sie: „Rhein-Main 1846 (8050), Bürgerhospital, Frankfurt am Main, Nibelungenallee 37-41.

 

Am Abend ruft Stabsfeldwebel Utsch unsere ganze Kompanie zusammen und erklärt uns noch einmal, daß wir zwar bei drei verschiedenen Kompanien untergebracht worden sind, vom Ami aber weiterhin als selbständige Einheit unter dem Namen „Utsch-Kompanie“ und der Ordnungsnummer „8050“ geführt werden. Damit die eingehende Post ohne Verzögerung ankommt, empfiehlt er uns – weil die Barackennummern nicht angegeben werden dürfen – als Absender außer unserem Namen und der Nummer unserer Betreuungskompanie in Klammern auch „8050“ als Bezeichnung unserer Kompanie anzugeben. Außerdem bittet er uns, als Ansprechpartner für ihn in jeder Baracke einen „Zeltältesten“ zu wählen. Da wir keinen Unteroffizier mehr unter uns haben, wählen wir den ältesten Bewohner unserer Baracke in dieses Amt, und das ist der Stabsgefreite Ernst Gustke aus Pommern, der schon im Zelt 7 in Gainneville  unser „Alterspräsident“ war.

 

Am Dienstag (04.12.) werden wir dann aber in den Arbeitsprozeß eingegliedert. Und zwar müssen wir Betonfundamente für sogenannte „Nissenhütten“, halbzylindrische Wellblechbaracken, herstellen. Der Fertigbeton wird mit LKWs angeliefert und abgekippt, und wir haben die Aufgabe, ihn innerhalb der Einschalung zu verteilen und zu glätten. Außerdem müssen wir Gräben ziehen und zu den Hütten Wasser- und Abflußleitungen verlegen. Diese Arbeiten kommen vorzugsweise dann in Betracht, wenn wir wegen Frostes nicht betonieren können.

 

Am Mittwoch (05.12.) werden dann die Feldbetten geliefert und zu je zehn Stück rechts und links mit dem Kopfende zur Außenwand aufgestellt, so daß in der Mitte um den Ofen, die Tische und Bänke etwas freier Raum bleibt. Gleichzeitig vereinbaren wir, daß reihum jeder einen Tag dafür zu sorgen hat, daß der Ofen in Gang gesetzt und die Asche regelmäßig entnommen und weggebracht wird.

 

Ohne Rücksicht auf die Nässe und Kälte, die das Winterwetter mit sich bringt, wird die tägliche Arbeitszeit von 8 bis 11.45 und von 13 bis 16.30 Uhr voll eingehalten. Seit unserer Ankunft hier bewegt sich die Temperatur um den Gefrierpunkt. Tagsüber beschert sie uns Regen- und Schneeregenschauer, in den Nächten gehen oft ergiebige Schneeschauer nieder.

 

An diesem Abend schreibe ich den ersten Brief nach Hause und bin gespannt, wann ich wohl Antwort bekommen werde.

Am Donnerstag (06.12.) und Freitag (07.12.) führen wir die Beton- und Erdarbeiten fort, obwohl es ständig schneit oder regnet, selbst zwischendurch auftretender Eisregen ist kein Grund, die Arbeit zu unterbrechen. Unter den Regenmänteln schwitzen wir, während Hände und Füße steif frieren. In der Nacht zum Samstag (08.12.) wird es dann allerdings so kalt, daß am Morgen alles hart gefroren ist, nicht nur das Wasser in den Pfützen, sondern auch das obere Erdreich ist hart wie Beton, so daß es nur noch mühsam mit der Kreuzhacke zu bearbeiten ist. Als der Kommandant die Quälerei an den Baustellen mitbekommt, hat sogar er ein Einsehen und ordnet kurzerhand „arbeitsfrei“ an. Das gilt allerdings nur für diesen einen Tag. Denn während der trockenen Frostperiode, die nun beginnt, müssen wir täglich zur Baustelle, um Zu- und Abflüsse zu verlegen.

 

Am Sonntag (09.12.) schreibe ich einen längeren Brief nach Hause und hoffe, nun bald auch eine Nachricht von dort zu bekommen. Denn ich weiß nicht, wie der Einmarsch der Amerikaner in Warburg vonstatten gegangen ist, ob unser Haus unbehelligt geblieben ist und alle den Zusammenbruch heil überstanden haben.

 

Obwohl es die ganze Woche gefroren hat, sind die frisch gegossenen Fundamente und Betonböden dank einem guten Frostschutzmittel, das dem Beton beigemischt wurde, ganz gut gelungen, so daß wir am Montag (10.12.) mit der Montage der Nissenhütten beginnen können. Dabei werden alle Hütten mit einer Wasserleitung und einem Kanalanschluß versehen, und in jeder Hütte wird ein Kanonenofen aufgestellt. Daraus schließen wir, daß sie nicht – wie allgemein üblich – als Lager- und Geräteschuppen, sondern als Behelfswohnheime genutzt werden sollen. Darauf lassen auch die Fenster schließen, die in die halbkreisförmigen Vorder- und Hinterwände eingesetzt werden. Da das trockene Winterwetter bis zum Freitag (14.12.) anhält, kommen wir mit der Arbeit gut voran. Am Samstag (15.12.) setzt dann aber so heftiger und anhaltender Schneefall ein, daß wir die Arbeit unterbrechen und im Lager bleiben müssen.

Dort werden wir aber nicht uns selbst überlassen, sondern müssen uns barackenweise in der Besuchsbaracke einfinden, um gegen Pocken und Typhus geimpft zu werden. Bei dieser Gelegenheit wird auch kontrolliert, ob sich ehemalige SS-Angehörige unter uns befinden, die an der eintätowierten Blutgruppe in der Achselhöhle zu erkennen sind.

 

Außerdem geht unser deutscher Kompanieführer, Stabsfeldwebel Utsch, von Baracke zu Baracke, um uns einige Bestimmungen der hiesigen „Lagerordnung“ mitzuteilen. Danach sind unsere khakifarbenen Kleidungsstücke – Jacken, Hosen, Oberhemden – umgehend gegen schwarz gefärbte Kleidung umzutauschen. Es wird uns verboten, weiterhin Ami-Kleidung in  ihrer Originalfarbe zu tragen. Wahrscheinlich soll damit die Flucht erschwert werden, denn mit der schwarzen PW-Kleidung fällt man überall sofort auf. Diese Anordnung trifft uns besonders hart, weil wir eine natürliche Abneigung gegen diese Sträflingskleidung haben. So öffnen wir die Wandverkleidungen und verstecken dahinter die Kleidungsstücke, die wir unbedingt behalten möchten. Das führt allerdings dazu daß die Zwischenräume zwischen den Außenwänden und der Innenverkleidung so vollgepackt werden, daß die Verkleidungen unter Druck geraten und die Nägel nicht mehr halten, so daß die einzelnen Paneele festgeschraubt werden müssen. Schrauben und Schraubenzieher lassen wir auf den Baustellen mitgehen und empfinden nach vollbrachter Tat eine diebische Freude darüber, daß wir dem Ami ein Schnippchen geschlagen haben und im Falle eines Falles nicht mehr allein auf die ungeliebte „Totengräberkleidung“ angewiesen sind.

 

Doch erfahren wir bei dieser Gelegenheit auch etwas Positives, nämlich daß wir sonntags zwischen 15 und 16 Uhr in der Baracke am Lagertor Besuch empfangen können, und auch, daß wir nicht nur Briefe, sondern auch Päckchen versenden und empfangen können. Eingehende Päckchen und Pakete werden allerdings in der Aufsichtsbaracke in Anwesenheit des Empfängers geöffnet und nach verbotenen Gegenständen durchsucht. Verboten sind

a)      Zigarren- und Zigarettenspitzen, Likör und Wein, Zitronen und Zitronensaft, sowie Dosen-

Konserven (Konserven in Gläsern sind zugelassen),

b)      Fotoapparate, Ferngläser und andere optische Geräte, Landkarten, Zeichnungen und Fotos mit Ausnahme von Personenfotos, also keine Häuser- und Gebäudefotos,

c)      Medizinische Hilfsmittel und Arzneien,

d)      Notizbücher, Kalender, Streichhölzer, Explosionskörper und Waffen (dazu zählen auch

      Messer und Scheren) und

e)      Bücher politischen und propagandistischen Inhalts. Jeglicher Lesestoff ist zu einer beson-

         deren Prüfung vorzulegen.  

 

Am Sonntag (16.12.) schreibe ich bereits den vierten Brief nach Hause und werde allmählich unruhig, weil ich noch nichts von dort gehört habe. Doch dieser Brief kreuzt sich mit einem Brief, den mein Schwager Hans am 15.12. abgesandt hat und der am 19.12. bei mir ankommt. So ist die Verbindung endlich hergestellt und ich weiß, daß zu Hause nichts Schlimmes passiert ist.

 

In der Besuchsbaracke ist heute wesentlich mehr los als am vergangenen Sonntag. Ich wundere mich, daß so viele so schnell ihre Angehörigen verständigen und zum Besuch einladen konnten. Beim näheren Hinsehen stellt sich jedoch heraus, daß nur sehr wenige Angehörige bei uns zu Besuch sind. Die meisten Besucher sind Besucherinnen, nämlich Mädchen aus Kelsterbach, die ihre Bekannten besuchen. Es hat sich nämlich eingebürgert, daß man sich krank meldet, mit dem Krankentransport das Lager verläßt, dann aber abspringt und nach Kelsterbach wandert und sich am Nachmittag an der verabredeten Stelle wieder zum Rücktransport ins Lager einfindet. Wenn man den Fahrer, einen deutschen Zivilisten, ausreichend mit Tabak und Zigaretten versorgt, funktioniert dieses Verfahren ausgezeichnet und ohne Risiko.

So kann man den ganzen Tag seinen eigenen Interessen nachgehen, und mit Zigaretten, Seife und Schokolade ist es auch kein Problem, in Kelsterbach eine Freundin zu finden, die dann am Sonntag zu Besuch kommt. Dadurch ergibt sich in der Besuchsbaracke ein Gedränge wie in einer Sardinendose. Während der Stunde Besuchszeit plärrt ständig ein Grammophon, zu dessen Musik ohne Unterbrechung auf der Stelle „getanzt“ wird.

 

Am Montag (17.12.) und Diensttag (18.12.) werden die Arbeiten an den Nissenhütten bei kaltem, aber trockenem Wetter fortgesetzt. Der Mittwoch (19.12.) ist arbeitsfrei, und am Donnerstagnachmittag (20.12.) sind alle Nissenhütten fertig montiert. Wir haben aber gerade die Arbeit beendet, da beginnt es zu regnen und in wenigen Minuten gießt es in Strömen, so daß wir froh sind, daß wir unverzüglich in unsere Baracken flüchten können. Denn bei dem trockenen Wetter haben nur wenige ihre Regenmäntel zur Arbeit angezogen. Der Freitag dieser Woche (21.12.) ist wieder arbeitsfrei.

 

Am Samstag (22.12.), dem Tage des kalendarischen Winteranfangs, beginnt dann ein neuer Arbeitseinsatz: die Entrümpelung des Towers. Bevor die Deutsche Luftwaffe den Rhein-Main Flughafen verlassen hat, sollte der Kontrollturm eigentlich gesprengt werden. Das ist aber nur zum Teil gelungen. Vollständig zerstört wurden dabei das Erd- und Kellergeschoß, denn wahrscheinlich ist die Sprengladung im Keller gezündet worden. Vom Erdgeschoß steht nur noch das Bewehrungsgerüst der vier Eckpfeiler, Wände und Kellerdecke sind verschwunden und der Keller liegt voller Bauschutt und Trümmer. Die über dem Erdgeschoß befindlichen Etagen des Towers stehen wie auf Stelzen und werden von den Eisenarmierungen der Eckpfeiler getragen. Sie sind über eine Drehleiter zu erreichen, welche die Pioniere aufgestellt haben. Wie es in diesen Stockwerken aussieht, kann man von außen nicht erkennen. Man kann lediglich sehen, daß sämtliche Fenster ohne Scheiben sind. Wo im Erd- und Kellergeschoß die Treppen waren, ragen nur noch Bündel von Moniereisen aus den Wänden. Unsere Aufgabe ist es nun, die beiden zerstörten Geschosse zu entrümpeln und dem Ami „besenrein“ zu übergeben.

 

Arbeitsgeräte können wir bei dem Gewirr aus Mauerwerk und Betonbrocken, die meist durch die Armierung noch zusammenhängen, kaum einsetzen. Es bleibt daher nichts anderes übrig, als den gesamten Arbeitsauftrag in Handarbeit zu erledigen. Um die größeren Brocken entfernen zu können, müssen sie zunächst einmal durch Einsammeln der kleineren und losen Brocken freigelegt werden. Dann müssen die sie verbindenden gedrehten Rundeisen durchtrennt werden, um die Brocken überhaupt bewegen zu können. Zuerst mutet man uns zu, dies mit Eisensägen zu besorgen. Daß dies ein hoffnungsloses Unterfangen ist, sieht auch der Ami ein und stellt uns Trennhexen und Schweißbrenner zur Verfügung. Die meisten Brocken sind aber so schwer, daß sie nicht bewegt werden können, sondern erst zerkleinert werden müssen. Auch hier müssen wir anfangs völlig ineffektiv mit Vorschlaghämmern arbeiten. Erst später werden uns Preßlufthämmer und –bohrer zur Verfügung gestellt, die allerdings nicht nur einen Höllenlärm verursachen, sondern auch Wolken feinen Staubes aufwirbeln. Daß wir bei dieser Schinderei weder Hörschutzgeräte noch Staubmasken zur Verfügung haben, versteht sich von selbst.

Der aus der Ruine geborgene Schutt muß neben dem Tower in mehreren Haufen – nach „fein“, „mittel“ und „grob“ getrennt – aufgeschichtet werden. Die ganze Arbeit ist nicht nur äußerst mühselig, sondern es können auch immer nur wenige Leute gleichzeitig in dem Bauwerk arbeiten, sonst würden sie sich in der Enge nur gegenseitig behindern. Damit die anderen nicht untätig herumstehen müssen, bilden wir Ketten, um die Abraumbrocken von Hand zu Hand zu den Schutthaufen zu befördern. Diese werden immer größer, ohne daß man in der Ruine selbst einen Erfolg unserer Arbeit feststellen kann. Nur hier und da gibt es eine freie Stelle, so daß man sich wenigstens auf eine gerade Fläche stellen kann, anstatt auf den einzelnen Brocken herumzubalancieren. Mit einem Wort: es ist eine wahre Sisyphosarbeit, bei der man trotz größter Anstrengungen kaum nennenswerte Erfolge sieht.

 

Daß bei dieser Sklavenarbeit die Stimmung schnell auf den Nullpunkt sinkt, ist kein Wunder. Wir sind bedrückt und verbittert zugleich und fragen uns, warum wir so geschunden werden. So kommen ganz von selbst auch andere Fragen auf. Warum werden wir noch immer wie Schwerverbrecher gefangen gehalten und müssen in den verhaßten schwarzen Klamotten herumlaufen, während andere längst entlassen und wieder zu Hause sind? Warum werden wir bei mäßiger Verpflegung zu einer solchen Knochenarbeit eingesetzt, die mit schwerem Räumgerät, das den Pionieren massenhaft zur Verfügung steht, in einem Bruchteil der Zeit zu bewältigen wäre? Warum müssen wir auch bei Nässe und Kälte eine derart sinnlose Arbeit verrichten? Wir kommen immer mehr zu der Überzeugung, daß wir auf diese Weise ganz bewußt und gezielt gedemütigt werden sollen. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, als am Ende dieser Schinderei das blitzblank gesäuberte Kellergeschoß mit grobem Beton vollgegossen und der Erfolg unserer wochenlangen Anstrengungen in wenigen Minuten zunichte gemacht wird.

 

Zu unserer Stimmung paßt auch das Wetter an diesem Wochenende, denn zuerst will es an diesem vierten Adventsonntag (23.12.) überhaupt nicht hell werden, vielmehr ziehen dunkle Wolken über uns hinweg, und dann setzt langanhaltender Regen ein, der mit kurzen Unterbrechungen bis zum Abend andauert. Um meinen Frust irgendwie loszuwerden, schreibe am Vormittag ich einen bitteren Klagebrief nach Hause, ohne groß darüber nachzudenken, welchen Eindruck er bei meinen Eltern und Geschwistern hinterlassen wird.

 

Nach dem Mittagessen erfahren wir, daß es hier auch eine „Lagerkirche“ gibt, doch die ist ebenso enttäuschend wie alles hier in diesem Lager. Es handelt sich nämlich nur um einen tristen Raum in einer Baracke, der zu Gottesdienstzwecken hergerichtet werden kann. Hier wird um 18 Uhr eine katholische Messe gefeiert, zu der ein Geistlicher aus Kelsterbach zu uns ins Lager kommt. Im Anschluß daran wird die Arbeits- und Besuchsregelung zu Weihnachten bekanntgegeben: Montag, Dienstag und Mittwoch – also der 24., 25. und 26.12. – sind arbeitsfrei und die Besuchszeit wird von einer auf zwei Stunden – von 14 bis 16 Uhr – verlängert.

 

Das sind allerdings die einzigen Weihnachtsvergünstigungen, denn es gibt weder bessere Verpflegung noch Marketenderware oder irgend eine Kleinigkeit, über die man sich freuen könnte. Während draußen im Lande überall Christbäume aufgestellt und die Feiertage mehr oder weniger festlich begangen werden, fühlen wir uns wie von der Umwelt ausgestoßen. Im „Camp Philip Morris“ gab es Hunderte von Amis in der Umgebung, mit denen wir Kontakt aufnehmen konnten und die als Soldaten zumindest Verständnis für unsere Lage hatten, hier aber scheinen wir mit unserem Kommandanten und unseren Posten allein zu sein, völlig ausgegrenzt und von der übrigen Welt verlassen. So wird uns durch dieses trostlose, traurige „Fest des Friedens“ unsere Lage als Gefangene und in einer sonst normalen Umgebung, aber weitab vom bürgerlichen Leben, Eingesperrte mit brutaler Deutlichkeit bewußt. Daher schwankt die Stimmung zwischen totaler Hoffnungslosigkeit und grimmiger Wut hin und her und wird durch das düstere Wetter, das die ganze Weihnachtswoche anhält, auch nicht besser.

 

Am Freitag (28.12.) bringt man uns morgens zunächst zum Tower, doch als es maßlos zu regnen beginnt, können wir in die Baracken zurückkehren. Dort wird dann die Regelung zum Jahreswechsel bekanntgegeben. Und zwar wird von Samstag (29.12.) bis Mittwoch (02.01.) eine fünftägige Arbeitspause angeordnet, und die Besuchszeiten werden am 30.12. und 01.01. wieder auf zwei Stunden verlängert.

 

Bis einschließlich Sonntag (30.12.) ist das Wetter trübe und regnerisch, am Silvestertage kommt mittags die Sonne durch und leitet eine längere Kälteperiode mit Dauerfrost ein. Immerhin lassen uns diese arbeitsfreien Tage ein wenig zur Ruhe kommen und bieten uns außerdem Gelegenheit, die elf neuen Mitbewohner unserer Baracke ein wenig näher kennenzulernen, die nun ihre Lebensgeschichten zum Besten geben. Zur Zeit setzt sich unsere Baracken-Wohngemeinschaft wie folgt zusammen:

                        Obergefreiter               Albert              BAUM

                        Obergefreiter               Alfred              GÄRTNER

                        Obergefreiter               Josef                GARSCHHAMMER

                        Obergefreiter               Willy                GAUBITZ

                        OT-Arbeiter                Franz               GEIER

                        Schütze                        Otto                 GLADE

                        Gefreiter                      Erich                GÖDERT

                        Obergefreiter               Willy                GÜNSCHT

                        Stabsgefreiter               Ernst                GUSTKE

                        OT-Vorarbeiter           Hans                HALTMAYR

                        OT-Arbeiter                Gustav             HASSELBACH

                        Obergefreiter               Erich                HASSLER

                        Gefreiter                      Heinz               HEIDT

                        Obergefreiter               Fridolin            HEILMANN

                        Obergefreiter               Anton  HUHN

                        Stabsgefreiter               Heinz               KRÜGER

                        Stabsgefreiter               Paul                 MÜLLER

                        Obergefreiter               Alfons              THALER

                        Obergefreiter               Stanislaus         WESSOLY

                        Gefreiter                      Kurt                 WESTERHAUS

 

Vier von uns sind bis zu 20 Jahre alt, die übrigen sechzehn sind zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Jahre älter als wir. Da verstehet es sich von selbst, daß wir Jüngeren nicht viel zu erzählen haben, zumal wir praktisch von der Schulbank weg Soldat geworden sind. Und Schülergeschichten interessieren hier niemanden. Da können die Älteren mit ganz anderen Geschichten aufwarten, die sie entweder tatsächlich erlebt oder gut erfunden haben.

 

Meinen Bettnachbarn zur Linken, Anton Huhn aus Lägerdorf in Holstein,, kenne ich bereits vom Arbeitseinsatz an der Kläranlage in Gainneville her, wo er oftmals Schmiere gestanden hat, wenn wir die Arbeitsstelle zum „Organisieren“ verlassen haben. Doch zu tieferen Gesprächen ist es zwischen uns nie gekommen. Nun aber erzählt er mir seine bisherige spannende Lebensgeschichte. Da er als junger Mann zur See gefahren ist, mag manches davon auch Seemannsgarn sein. Doch das stört mich überhaupt nicht.

Mit meinem Bettnachbarn zur Rechten, Alfons Thaler aus München, werde ich nicht recht warm. Er ist nicht nur doppelt so alt wie ich, sondern hat auch eine ganz anderen Lebensauffassung, mit der ich nicht viel anfangen kann.

 

Anton Huhn, der auch hier als Sanitäter eingesetzt worden ist und sich daher viel freier bewegen kann als alle anderen, ist zweifellos mit allen Wassern gewaschen. So hat er auch hier auf dem Flugplatz mehrere Zivilisten kennengelernt, die im Auftrag der Firma „Philipp Holzmann AG“ arbeiten, die hier im Auftrage der US Army die Großaufträge erledigt. Dazu gehört auch ein Herr Schüttkowski, der sich als besonders „anhänglich“ erweist und ihn ständig um Zigaretten angeht.  Obwohl Anton Huhn von Natur aus gutmütig und hilfsbereit ist, kann er es nicht vertragen, ausgenutzt zu werden. So hat er sich zwei Tabaksdosen zugelegt, die er in zwei verschiedenen Taschen ständig bei sich trägt. Die eine enthält seinen eigenen Raucherbedarf, die andere lediglich ein paar Kippen und Tabakkrümel. Wenn er jetzt nach Zigaretten gefragt wird, zückt er mit großer Geste die zweite Dose und übergibt sie ungeöffnet dem Bittsteller. Wenn dieser den Inhalt sieht und sich nicht traut, dem Anton davon noch etwas wegzunehmen, tut dieser sehr erstaunt, daß der Vorrat schon wieder so zusammengeschrumpft ist und überläßt dem Schnorrer großzügig eine oder zwei der in der Dose enthaltenen Zigarettenkippen. Das bereitet ihm jedesmal ein diebisches Vergnügen und er erzählt mir immer wieder, wie dumm sein Bekannter „aus der Wäsche geguckt“ hat. Obwohl ihn Anton ständig zum Narren hält, hat dieser ihm zum 38. Geburtstag, den er nach Weihnachten begangen hat, eine Flasche Wein besorgt – aber nicht als Geschenk, sodern selbstverständlich im Tausch gegen Tabak. Diesen Wein „verbessert“ Anton nun mit 65%igem Alkohol, der eigentlich zu Desinfektionszwecken bestimmt ist, und den trinken wir dann zum Jahreswechsel, den ich dadurch fast verschlafen hätte.

 

Nach meinem Gefühl bin ich kaum eingeschlafen, als mich Alfons Thaler weckt, um mir ein „frohes neues Jahr“ zu wünschen. Noch halb im Tran erfasse ich gar nicht so schnell, was er von mir will, sondern fühle mich lediglich im Schlaf gestört und antworte ihm mit dem bekannten Götz-von-Berlichingen-Zitat. Dadurch gerät er fast außer sich und macht mich erst richtig wach. Ich verstehe zuerst überhaupt nicht, warum er so wütend ist. Da er dabei in seinen urbayerischen Dialekt verfällt, kann ich daraus lediglich entnehmen: „Das hat mir zu Neujahr noch niemand gesagt!“ Doch geht die Episode schnell im allgemeinen Lärm unter, der kurz nach Mitternacht im Lager entsteht. Viele ziehen von Baracke zu Baracke und rufen hinein: „Ein frohes neues Jahr und baldige Heimkehr!“

 

Allerdings ist niemand richtig so froh, wie es eigentlich zu Silvester sein sollte. Vor allem die Ost- und Mitteldeutschen bedrückt über ihr eigenes Schicksal hinaus das Fehlen jeglicher Verbindung zu ihren Angehörigen. Doch die Unruhe im Lager ebbt schnell wieder ab, und alle horchen in die Nacht hinaus, ob sich außerhalb des Lagers irgend etwas tut. Aber es ist auffallend ruhig, lediglich ganz in der Ferne hören wir ein paar Schüsse oder sehen einige wenige Silvesterraketen aufsteigen und zerplatzen.

 

Ich selbst habe am 19. und 24.12. die ersten Briefe erhalten und weiß, daß zu Hause den Umständen entsprechend alles in Ordnung ist. Während der freien Zeit haben wir reichlich Gelegenheit zum Diskutieren, vor allem mit unseren neuen Barackengenossen. Das Hauptthema ist natürlich, unsere erhoffte baldige Entlassung, daneben aber sind wir körperlich noch nicht so heruntergekommen, daß auch das Thema „Frauen“ eine Rolle spielt, bei dem natürlich die Älteren das große Wort führen und wir Jüngeren nur die Ohren spitzen können, wenn sie ausführlich über ihre tatsächlichen oder frei erfundenen erotischen Abenteuer berichten. Insgesamt sind wir aber sehr gespannt darauf, was im neuen Jahre aus uns persönlich werden soll.

 

Unabdingbar für jede weitere Lebensplanung ist allerdings die Entlassung aus der Gefangenschaft. Deshalb steht sie im Mittelpunkt aller Diskussionen und Überlegungen. Selbst die Zivilisten, die wir hier gelegentlich bei der Arbeit treffen, greifen dieses Thema auf und erfinden oft Nachrichten über unsere baldige Entlassung, um uns bei Laune zu halten und Tabak oder Seife bei uns „abzustauben“. Wenn wir sie allerdings auffordern mit uns zu tauschen, um in den Besitz dieser begehrten Sachen zu kommen, dann kennen sie nur eine Antwort: „Naa, naa, dahaam is dahaam!“ So erzählen sie uns, am Neujahrstage sei über den Rundfunk verbreitet worden, alle in der amerikanischen Besatzungszone befindlichen Gefangenen würden bis Ende April entlassen. Obwohl im Grunde niemand solche Parolen für bare Münze hält, werden sie weitererzählt, um wenigstens die Hoffnung auf eine baldige Heimkehr nicht zu verlieren.

 

Immer wenn wir bei der Arbeit mit Zivilisten zusammenkommen, fragen wir uns, warum sie, die dieselben Arbeiten verrichten wie wir, frei herumlaufen, während wir weiter eingesperrt werden. Ganz besonders ärgerlich finden wir es, wenn – teilweise selbsternannte – Antifaschisten oder „VVN“-Mitglieder (Verein für Verfolgte des Naziregimes), die sich hier beim Ami angebiedert haben und – weil nicht genug Amis vorhanden sind – dazu eingesetzt werden, uns zu beaufsichtigen. Wenn sie dann noch anfangen, auf die „Militaristen“ – womit außer uns ehemaligen Soldaten auch die Arbeiter der Organisation Todt gemeint sind – zu schimpfen, packt manchen von uns die Wut, und er würde diesen „Amiknechten“ am liebsten den Hals umdrehen, wenn sie sich nicht unter die Fittiche der Besatzer geflüchtet hätten.

 

Wie das alte Jahr endete, so beginnt das neue Jahr 1946 mit Dauerfrost und strahlendem Sonnenschein. Als wir am Donnerstag (03.01.) die Arbeit wieder aufnehmen, stellen wir fest, daß der Boden mindestens 1o cm tief gefroren ist. Ausgerechnet jetzt wird unsere Barackengemeinschaft von der Arbeit am Tower abgezogen, um Gräben für die Kanalisation auszuheben. Die anderen, die wir ablösen und die nun am Tower eingesetzt werden, haben noch die Erschwernis, daß sämtliche Betonbrocken angefroren sind. So bauen sie aus Moniereisen einen Behelfsofen zusammen, in dem alles verbrannt wird, was brennbar ist. Dabei werden der Qualm und Gestank, den Teerpappe und angestrichenes oder ölgetränktes Holz beim Verbrennen verursachen, „billigend in Kauf genommen“.

 

Als wir zum Mittagessen am Tower vorbei ins Lager gefahren werden, erleben wir dort das reinste Silvester-Feuerwerk. Es zischt und kracht, und die ganze Szenerie wird abwechselnd in gleißend weißes und rotes Licht getaucht. Die Lichtkörper fliegen im Kellergeschoß von Wand zu Wand und auch im Erdgeschoß aus dem Gebäude hinaus ins Freie. Da hatte doch irgendein Witzbold eine Kiste „ES“ (Erkennungssignale) gefunden und ins Feuer gekippt. Durch diese kleinen Leuchtkugeln hatten sich die Nachtjäger unter einander und mit der Flak verständigt, um nicht aus Versehen abgeschossen zu werden. Sie wurden jeden Tag in einer anderen Farbzusammenstellung verabredet. Da gab es rote Leuchtkugeln, die dann in zwei weiße zerplatzten, oder weiße, die sich in zwei rote auflösten, aber auch zwei weiße, die sich in zwei rote verwandelten oder auch zwei rote, die kurz nach ihrem Aufleuchten weiß wurden. Nun aber zischen diese Leuchtkugeln den Kameraden um die Ohren, und sie können nur schnell in Deckung gehen, um nicht von so einem heißen Ding getroffen zu werden. Für uns ist es ein zusätzlicher Spaß, die schwarzen Gestalten abwechselnd weiß und rot angestrahlt herumspringen zu sehen.

 

Abends wird bekanntgegeben, daß der Lagerkommandant, ein Oberleutnant, den wir noch nie zu Gesicht bekommen haben, offiziell einen Barackendienst genehmigt hat. Von nun an kann jeden Tag einer der Besatzung während der Arbeitszeit in der Baracke bleiben, um für Ordnung und Sauberkeit zu sorgen. Vor allem muß er aber den Ofen in Gang halten, für Brennmaterial sorgen und warmes Wasser bereithalten, damit sich die von der Arbeit Zurückkehrenden abends waschen können. Bisher hatten wir schon von uns aus einen Barackendienst eingerichtet, doch nun muß sich niemand mehr krank melden, um in der Baracke bleiben zu dürfen. Ganz wohl war uns bei dem Verfahren nicht, so daß wir froh sind, daß diese Angelegenheit nun klar geregelt ist.

 

Am Freitag (04.01.) und Samstag (05.01.) müssen wir weiterhin in dem gefrorenen Boden Gräben ziehen. Oft reicht die Spitzhacke nicht aus, um den granitharten Boden zu lockern, so daß wir nur mit einer Brechstange weiterkommen. Diese Schwerarbeit geht bis an die Grenze unserer Kräfte, so daß wir uns öfter ablösen müssen und am Ende alle Muskelkater haben.

 

Am Sonntag, dem Dreikönigstage, wird das Wetter wieder schlechter. Die Sonne scheint nicht mehr, es wird kalt und windig, aber der Dauerfrost hält an. Wie das Wetter so ist auch unsere Stimmung. Von der schweren Arbeit tun uns die Gelenke weh, und so liegen wir mürrisch auf den Feldbetten und warten auf die Mahlzeiten, die alles andere als üppig sind.

 

Am Montag (07.01.) bekomme ich auf einen Schlag vier Briefe von Bekannten, die ich von hier aus angeschrieben habe und halte damit mit elf empfangenen Briefen den Barackenrekord. Am Dienstag (08.01.) müssen wir abends vor der Aufsichtsbaracke antreten. Dabei erleben wir unseren Kommandanten, der sich sonst nur selten einmal sehen läßt, so aufgebracht und wütend wie noch nie. Zuerst läßt er eine solche Sammlung original amerikanischer Army-Flüche vom Stapel, wie wir sie in dieser Konzentration noch nie gehört haben. Erst als er sich dadurch ein wenig abreagiert hat, läßt er den Dolmetscher überhaupt zu Worte kommen, und der teilt uns mit, daß zwei Lagerinsassen mit Tripper ins Bürgerhospital eingeliefert worden sind. Der Kommandant ist deshalb völlig außer sich, weil er dies seiner vorgesetzten Dienststelle melden  – überall hängen Plakate, die vor „venereal disease“ warnen – und befürchten muß, dadurch auf seinem Entlassungskonto Minuspunkte zu bekommen, so daß er länger als vorgesehen auf seine Rückkehr in die Vereinigten Staaten warten muß.

 

Dabei hat er alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen! Auch in der Besuchsbaracke hat er die „VD“-Warnplakate aufhängen lassen und während der Besuchszeit einen Posten hineingeschickt, um die „Tanzenden“ zu beobachten. So ist mit großer Sicherheit anzunehmen, daß sich die beiden in Kelsterbach angesteckt haben. Wir sind froh, daß er nicht soweit geht, und den Besuch ganz verbietet oder eine Kollektivstrafe – wie Verpflegungskürzung oder –entzug – über das ganze Lager verhängt. Dann, nachdem er seine Wut abreagiert hat, wird er wieder ganz versöhnlich und entläßt uns sogar mit einem Lächeln in unsere Baracken. Wahrscheinlich stellt er sich vor, welche Behandlung die Betroffenen zu erwarten haben, denn bei „VD“ hört der Spaß auf, und weder bei den Ärzten, noch bei den Schwestern und Sanitätern können die Delinquenten auf Mitleid hoffen.

 

Am Mittwoch (09.01.) habe ich zum ersten Mal Barackendienst. Darüber bin ich ganz froh, denn das Wetter ist äußerst ungemütlich. Erst ist der Himmel nur bewölkt, dann schneit es und am Nachmittag geht der Schee in Regen über. Auch die ganze Nacht hindurch prasselt der Regen auf unsere Baracke, setzt sich auch am Donnerstag fort und hält sogar ohne Unterbrechung bis Freitag (11.01.) an. Erst am Freitagnachmittag läßt sich die Sonne wieder blicken.

 

Mit dem Regen ist die Temperatur gestiegen, der Boden ist aufgetaut und, wo letzte Woche alles hart gefroren war, müssen wir nun im Matsch herumwühlen. So wird die Arbeit ständig schmutziger und anstrengender, denn in Dreiergruppen müssen wir die etwa 1 m tief liegenden Anschlüsse zu den Nissenhütten freilegen, weil sie verstopft sind und erneuert werden  müssen. Besonders ärgerlich ist es, daß wir bei dieser Arbeit auch noch von serbischen Posten beaufsichtigt werden, die nach unserer festen Überzeugung in Deutschland überhaupt nichts mehr zu suchen haben.

 

Am Sonntag (13.01.) regnet es den ganzen Tag, so daß wir in der Baracke bleiben müssen und uns dabei gegenseitig auf die Nerven gehen. Die Stimmung ist äußerst mies, denn der Tag ist zwar arbeitsfrei, aber sonst gibt es nicht das Geringste, über das man sich freuen könnte. Es gibt keinen Gottesdienst und die Verpflegung ist um keinen Deut besser als an den normalen Arbeitstagen.

 

Am Montag (14.01.) tritt ein Wetterumschwung ein und eröffnet eine dreiwöchige Schönwetterperiode mit Dauerfrost. Im Widerspruch zu jeglicher fachlicher Vernunft läßt man uns während dieser Zeit eine Fahrbahn betonieren. Sie wird bei dem Frost zwar sofort hart, bei dem späteren Tauwetter aber wieder weich und matschig, weil der – offenbar ohne Frostschutzmittel hergestellte – Beton nicht abbinden konnte und nun regelrecht zerbröselt. Also müssen wir den Betonmatsch wieder beiseite schaufeln, damit die Straße noch einmal betoniert werden kann. Wie bei den Arbeiten am Tower sind wir auch bei dieser Tätigkeit, die auch noch mit einer unnötigen Materialverschwendung verbunden ist, davon überzeugt, daß man uns solche sinnlosen Arbeiten ganz bewußt ausführen läßt, um uns zu demütigen und zu verhöhnen. Auch die Äußerungen unserer Aufseher lassen keine andere Schlußfolgerung zu. Wenn wir über die Sinnlosigkeit dieser Arbeit schimpfen und darauf hinweisen, daß selbst der jüngste Maurerlehrling weiß, daß man bei Frost nicht betonieren kann, quittieren sie das nur durch hämisches Grinsen. Was für einen Abschaum hat man hier nur zu unserer Beaufsichtigung zusammengezogen! Mit einer stillen Sehnsucht denken wir zurück an die gute Zusammenarbeit mit den Pionieren vom „298th Engineer Combat Bataillion“ im „Camp Philip Morris“ von Le Havre und den kameradschaftlichen Umgang mit den Angehörigen regulärer Kampftruppen, die dort auf ihre Heimkehr warteten.

 

Der folgende Sonntag (20.01.) ist wolkig bis heiter. So können wir wenigstens zeitweise die Baracke verlassen und am Nachmittag auch die Sonne genießen. Wieder gibt es keinen Lagergottesdienst und das Essen ist genauso mies und eintönig wie sonst. Allerdings bringen einige, die in der Besuchsbaracke waren, die Parole mit, im Rundfunk sei berichtet worden, daß alle Kriegsgefangenen der amerikanischen Besatzungszone bis zum 1. April nach Hause geschickt werden sollen.

 

Am Montag (21.01.) wird unser Lagerkommandant abgelöst und reist auch, ohne sich von uns zu verabschieden, gleich ab. Wir hatten uns so sehr an diesen gutmütigen und menschlichen Kommandanten gewöhnt, der uns im wesentlichen in Ruhe ließ, daß wir regelrecht geschockt sind, als sich beim Abendappell ein Nachfolger vorstellt, der aus ganz anderem Holz geschnitzt zu sein scheint. Er liegt nämlich genau auf der von General Eisenhower vorgegebenen Linie, die Deutschen möglichst „hart“ anzufassen. Wie sein oberster Befehlshaber mag der die Deutschen nicht und hält alle ehemaligen Soldaten für Nazis und Kriegsverbrecher. Deshalb fängt er auch sofort an, uns zu unterdrücken und zu schikanieren.

 

Vor allem gefällt es ihm nicht, daß wir ohne Einschränkung Briefe und Päckchen versenden und empfangen können. Er möchte ab sofort wieder die strengen PW-Normen einführen, die wir längst vergessen haben. Danach dürfen wir pro Monat nur vier Karten und zwei Briefe auf vorgedruckten Formularen schreiben. Zudem muß die Post deutlich als „POW-POST“ gekennzeichnet werden und darf nicht über die deutsche Post, sondern nur über die amerikanische Feldpost laufen. Dazu lautet die für uns vorgeschriebene Anschrift nun „German 8050th L.S.Co. A.P.O. 633, US ARMY“. Außerdem soll unter unserem Namen jeweils die I.S.N. (Internment Serial Number), unsere Gefangenen-Nummer, angegeben werden. Daß die Post auf diese Weise wochenlang unterwegs ist, scheint er durchaus beabsichtigt zu haben. Jedenfalls empfinden wir diese kleinliche Regelung als reine Schikane und beschließen, sie nach Kräften zu unterlaufen.

 

Also ignorieren wir die neuen Vorschriften einfach und lassen die Post weiterhin über das Bürgerhospital laufen. Nur geschieht das jetzt etwas vorsichtiger und konspirativer. Ab sofort werden die eingehenden Briefe nicht mehr offen auf die Betten gelegt, sondern unter die Schlafsäcke. Eingehende Päckchen werden nicht mehr zur Aufsichtsbaracke gebracht, sondern ins Lager geschmuggelt und unter den Betten versteckt. So ändert sich praktisch so gut wie nichts, nur handeln wir jetzt im vollen Bewußtsein, gegen geltende Vorschriften zu verstoßen und uns damit im Sinne des Armeereglements strafbar zu machen. Doch das belastet unser Gewissen in keiner Weise, da wir diese Restriktionen ohnehin für „Wahnsinn“ halten.

 

Bevor es mit dem Postverkehr noch schlechter wird, schicke ich außer meinen Tagebuchaufzeichnungen, die ich auf jeden Fall retten möchte, auch laufend Tabak und Seife nach Hause und lasse mir von dort Brot und Schinken schicken, um die dürftige Ernährungslage etwas aufzubessern. Nur wenn es Gemüsemais gibt, geht es mir gut, denn die meisten mögen ihn nicht und überlassen mir gerne ihre Portionen, so daß ich wenigstens bei diesen Gelegenheiten einmal richtig satt werde.

 

Am Mittwoch (23.01.) habe ich wieder Barackendienst. Bei dem schönen Wetter halte ich mich aber nicht den ganzen Tag in der Baracke auf, sondern durchstreife das Lager, um Brennmaterial zu sammeln. Während der übrigen Tage dieser Woche arbeite ich wieder im Tiefbau. Dabei geht es entweder darum, Abflüsse an den Nissenhütten freizulegen, die dann von einem anderen Kommando erneuert werden, oder danach die Gräben wieder zuzuschaufeln und einzuplanieren.

 

Der kommende Sonntag (27.01.) wird ein schöner Wintertag mit Dauerfrost und Sonnenschein. Wieder einmal werden wir seitens der Lagerleitung uns selbst überlassen. Zum Glück können wir uns im Freien aufhalten, denn in den Baracken kommen keine vernünftigen Gespräche mehr zustande, auch zum Kartenspielen hat niemand mehr rechte Lust. Wir sind einfach reif für die Entlassung, die neuerdings – wie im Rundfunk gemeldet worden sein soll – bis Ende März über die Bühne gehen soll. Dennoch sinkt die Stimmung im gleichen Maße ab wie sich unsere Ungeduld steigert.

 

Am Montag (28.01.) meldet sich Otto Glade, der Jüngste in unserer Runde, krank. Er war immer ruhig und etwas introvertiert, hat wenig erzählt und meistens nur zugehört, wenn die anderen geredet haben. Nun aber hat er sich ungefärbte Sachen unter die schwarze Arbeitskleidung angezogen und mit dem Krankentransport das Lager verlassen. Er kommt aber nicht beim Bürgerhospital an, sondern verschwindet unterwegs und macht sich auf den Weg nach Hause. Da er nie von Heimweh gesprochen und auch niemanden in seine Fluchtpläne eingeweiht hat, sind wir ganz überrascht, als er abends nicht mit dem Krankenwagen zurückkommt. Wäre er wirklich krank gewesen, so hätte er ruhig das Bürgerhospital aufsuchen können, denn wer dort als Patient aufgenommen wird, kehrt gewöhnlich nicht ins Gefangenenlager zurück. Vielmehr werden die Genesenden unmittelbar von dort aus entlassen und nach Hause geschickt.

 

Am Mittwoch (30.01.) taucht im Lager das Gerücht auf, daß wir in Kürze mit einer Änderung unseres Kriegsgefangenenstatus zu rechnen hätten. Wie die Briten – heißt es – würden auch die Amerikaner eine „GSO“ (German Service Organization) aufstellen und die PWs darin eingliedern. Deshalb sollen die Kompanieführer ihre Leute davon abhalten, sich weiter mit Fluchtgedanken zu befassen, zumal sie ohne Entlassungsschein Schwierigkeiten – zB bei der Meldung beim Arbeitsamt und der Ausgabe von Lebensmittelkarten – bekommen könnten.

 

Donnerstag (31.01.) ist dann der vorerst letzte Sonnentag. Während die meisten die ganze Woche hindurch im Tiefbau arbeiten müssen, werde ich heute einem Transportkommando zugeteilt. Mit acht Mann fahren wir auf zwei LKWs nach Darmstadt, um aus einer früheren Flakkaserne Heizkörper zu holen. Das ist eine schöne und lange Fahrt, während der wir die wärmende Wintersonne genießen können. Beim Verladen der Heizkörper, die wir zu sechst hoch wuchten, währen die beiden übrigen sie auf den LKWs annehmen müssen, kommen wir trotz der kalten Witterung schnell ins Schwitzen. Dafür machen wir uns aber kaum schmutzig. Vor allem sind wir froh, daß diesen Transport ein rothaariger Ami – offenbar irischer Herkunft – begleitet und wir nicht unter der Aufsicht eines üblen Aufpassers arbeiten müssen, wie es auf dem Flughafen üblich ist, wo sich alles mögliche zwielichtige Gesindel als Handlanger der Besatzer eingefunden hat. Außerdem hat unser Posten wohl ganz andere Interessen als uns zu beaufsichtigen, denn die ganze Zeit, während wir arbeiten, ist er verschwunden und kommt erst kurz vor der Rückfahrt zu uns zurück.

 

Abends läßt der Kommandant das ganze Arbeitsbataillon vor der Aufsichtsbaracke antreten und gibt bekannt, daß alle vier hier untergebrachten Kompanien innerhalb der nächsten drei Monate entlassen werden sollen. Wer aus den unter polnischer Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten oder dem Sudetenland komme und nicht wisse, wohin er sich nach der Entlassung wenden solle, dem werde Gelegenheit geboten, sich hier bei der Firma Holzmann dienstverpflichten zu lassen. Dann könne er als Zivilist weiter auf dem Flughafen arbeiten, werde in einem Nissenhütten-Wohnlager ohne Einfriedigung untergebracht und durch eine Gemeinschaftsküche verpflegt. Er bekomme die üblichen Lebensmittelkarten wie die Zivilbevölkerung und zusätzlich eine warme Mahlzeit aus amerikanischen Heeresbeständen. Im Lager würden ab sofort Essenmarken und bei Out-of-area-Einsätzen K-Rationen ausgegeben. Die Essenmarken seien nicht übertragbar und müßten auf der Rückseite den Namen des Empfängers tragen. Sie würden jeweils am Abend durch die Kompanieführer für den folgenden Tag ausgegeben. Diese Maßnahme sei erforderlich, weil wir - trotz überquellender Verpflegungslager der US Army - ab dem 1. Februar von der amerikanischen Truppenverpflegung in die deutsche Zivilversorgung überführt werden sollen, so daß im Lager der in der amerikanischen Zone in der 84. Zuteilungsperiode geltende Verpflegungssatz von 1576 Kalorien pro Tag eingeführt wird. Was das zu bedeuten hat, können wir uns noch nicht recht vorstellen, wohl aber wissen wir, daß es geradezu eine Hungerration gegenüber dem Verpflegungssatz für die kämpfende Truppe von 4500 Kalorien pro Tag  sein muß, der in Le Havre auch für uns gegolten hat.

 

Viele glauben oder wollen an die Entlassung innerhalb der nächsten drei Monate glauben. Andere – wahrscheinlich die Mehrheit – halten diese Ankündigung für einen weiteren Trick des Kommandanten, der uns wenigstens so lange bei der Stange halten will, bis er abgelöst wird. Unter der Hand wird nämlich bereits gemunkelt, daß wir am 1. Mai einen neuen Lagerkommandanten bekommen sollen.

 

Auch am  Freitag (01.02.) gehöre ich wieder zu einem Transportkommando. Dieses Mal fahren wir nach Mannheim, um aus einer früheren Ziegelei Tonrohre abzuholen. Das ist zwar eine wesentlich leichtere Arbeit, als Heizkörper zu verladen, aber es regnet ununterbrochen, so daß wir die Fahrt nicht genießen können, sondern uns in unseren Regenmänteln in einer Ecke der Ladefläche zusammenkauern und uns gegenseitig ein wenig zu schützen suchen.

 

Da der Regen die ganze Nacht hindurch anhält und sich auch am Samstagmorgen (02.02.) keine Besserung abzeichnet, ist heute arbeitsfrei. So haben wir ausgiebig Gelegenheit, um das Thema „Dienstverpflichtung“ zu diskutieren, das unser Kommandant ins Gespräch gebracht hat. Auf Anregung unseres Kompanieführers legen wir zwei Listen an. In die eine werden alle diejenigen eingetragen, die sich dienstverpflichten lasssen wollen, in und die andere diejenigen, für die eine Dienstverpflichtung auf keinen Fall in Betracht kommt. Über das Wochenende soll sich jeder überlegen, in welche Liste er eingetragen werden möchte. Aus dem Bürgerhospital bringen unsere Kranken unterdessen die Parole mit, daß im Rundfunk eine Meldung verbreitet worden sei, nach der alle Kriegsgefangenenlager in der amerikanisch besetzten Zone bis zum 1. August geschlossen werden sollen.

 

Während des trüben und verregneten Sonntags (03.02.) können wir die Baracke kaum verlassen und diskutieren hauptsächlich das Thema „Dienstverpflichtung“ weiter. Außer der Tatsache, daß wir nicht arbeiten müssen, erinnert nichts daran, daß heute Sonntag ist. Es findet kein Gottesdienst statt und das Essen läßt wie immer sehr zu wünschen übrig. Die neue Kalorienzuteilung macht sich bereits bemerkbar. Einige gehen zur Besuchsbaracke, um sich den Trubel dort anzusehen.

 

Am Montagmorgen (04.02.) meldet sich der zweite von uns vier Jüngeren, Kurt Westerhaus wegen starker Halsschmerzen und Schluckbeschwerden krank. Er fährt mit dem Krankenwagen zum Bürgerhospital und ist vor dort aus wohl entlassen worden, denn er kehrt nicht zu uns zurück, so daß  Erich Gödert und ich als die einzigen Zwanzigjährigen in der viel älteren Barackenbesatzung übrig bleiben.

 

Am Montag (04.02.) und Dienstag (05.02.) muß ich bei den Nissenhütten Erdarbeiten verrichten, also entweder die Gräben zuschaufeln oder die Umgebung der Hütten planieren. Zum Glück bleibt es während dieser Zeit bis auf ein paar Regentropfen am Dienstagmorgen trocken, an beiden Nachmittagen scheint sogar die Sonne, so daß wir wenigstens nicht im Matsch herumwühlen müssen, was besonders für die Mitgefangenen wichtig ist, die in den Gräben die Abflüsse verlegen müssen.

 

Am Abend um 23 Uhr, als wir uns längst zur Ruhe begeben haben, geht Stabsfeldwebel Utsch durch die Baracken, um die Dienstverpflichtungslisten einzusammeln, die der Kommandant noch heute haben will. Wie uns unser Kompanieführer bei dieser Gelegenheit mitteilt, haben sich vom ganzen Bataillon 225 Mann für eine Dienstverpflichtung eintragen lassen, von unserer Kompanie, die mit rund 230 Mann die zahlenmäßig stärkste ist, sind es aber nur 13 Kameraden, die hier weiter als Zivilisten arbeiten wollen.

 

Für den Rest der Woche werde ich wieder dem Transportdienst zugeteilt, so daß ich täglich aus dem Lager herauskomme und Frankfurt und Darmstadt so zerstört erlebe, wie diese Städte aus dem Kriege hervorgegangen sind. Meistens sind es Baumaterialien, die wir auf- und abladen müssen, zwischendurch sind es aber auch Werkzeuge und Arbeitsgeräte. Das Wetter ist während der ganze Woche bewölkt, aber trocken. Lediglich am Donnerstag (07.02.) regnet es wieder einmal in Strömen, so daß wir in Regenmänteln arbeiten müssen und von der Fahrt selbst nichts haben.

 

Samstag, der 9. Februar, ist mein 300. Tag in der Gefangenschaft. An diesem Tage fahren wir wieder nach Mannheim, um Baumaterial zu holen. Leider ist die lange Fahrt heute alles andere als ein Vergnügen, denn es ist elend kalt und regnerisch, so daß wir völlig durchgefroren sind, als wir abends ins Lager zurückkehren. Hier werden wir gleich mit einer „Sondermeldung“ empfangen, denn die Armeezeitung „THE STARS AND STRIPES“ hat eine Meldung gebracht, nach der die Amerikaner nur noch insgesamt 70.000 PWs (SS-Angehörige und politisch belastete Gefangene) behalten wollen und alle übrigen bis zum 30. Juni entlassen werden sollen.  Auch die „FRANKFURTER RUNDSCHAU“, die zweimal wöchentlich ins Lager kommt, berichtet laufend über erfolgte und bevorstehende Entlassungen von Kriegsgefangenen.

 

Etwas anders äußert sich dagegen die in Mannheim erscheinende „RHEIN-NECKAR-ZEITUNG“. Sie berichtet nämlich, daß die amerikanische Besatzungsmacht den Gefangenen den Weg ins Zivilleben dadurch erleichtere, daß sie diese noch einige Monate als „dienstverpflichtet“ auf ihren Stützpunkten arbeiten lasse. Am Ende des Artikels behauptet die Zeitung, dieses Angebot werde von den Gefangenen freudig begrüßt und begeistert angenommen. Der Artikelschreiber muß aber wohl andere Lager meinen, denn bei uns kann von Begeisterung nicht im entferntesten die Rede sein. Lediglich diejenigen, die durch die Vertreibung ihrer Angehörigen aus den deutschen Ostprovinzen und dem Sudetenland heimatlos geworden sind, nehmen teilweise dieses Angebot als das geringere Übel an. Alle anderen wollen lieber nach Hause statt als Zivilarbeiter hier zu bleiben.

 

Jedenfalls ist „Dienstverpflichtung oder Entlassung“ zum beherrschenden Gesprächsthema in allen Baracken geworden. Da nun feststeht, daß unser Kommandant Ende April in die USA zurückkehren wird, halten viele das Dienstverpflichtungsangebot für ein Scheinmanöver mit dem Ziel, uns von der Flucht abzuhalten. Vereinzelte Optimisten glauben allerdings, daß mit dem Abgang des Kommandanten auch das Lager aufgelöst wird. Zu ihnen gehört mein Bettnachbar Anton Huhn ganz sicher nicht, denn er leidet unter Heimweh und redet nur noch vom „Abhauen“. Für alle Fälle habe ich ihn bereits bei meinen Angehörigen in Warburg angekündigt. Er will nämlich auf jeden Fall über Warburg flüchten, weil ihm der Zonen-Grenzübergang bei Welda südlich von Warburg sicherer erscheint als der Kontrollpunkt bei Haueda an der Eisenbahnhauptstrecke von Kassel nach Paderborn.

 

Um Geld für die Flucht zu bekommen, verkauft er bereits Marketenderware an Zivilisten. Bisher gab es in Abständen von zwei bis drei Wochen regelmäßig Tabak, Seife, Rasiercreme, Rasierklingen, Zahnbürsten, Zahnpasta, Schuhcreme, Schuhbürsten, Kleiderbürsten, Schreibblöcke, Federhalter, Federn und Tinte, Nähzeug, Zigarettendrehmaschinen und Blättchen, alles draußen sehr begehrte Mangelwaren. Da läßt sich manches abzweigen und gut verkaufen. Anton möchte unbedingt, daß ich mit ihm zusammen ausreiße, doch dazu kann ich mich nicht entschließen. Zum einen weiß man nie, ob die Flucht gelingt, und wenn ja, dann bekommt man ohne Entlassungsschein keine Lebensmittelkarten. Außerdem kann es mit der regulären Entlassung nach allem, was man hört und liest, ja nicht mehr lange dauern.

 

Auf dem Flugplatz wird die Arbeit, die durch das Winterwetter zu Beginn des Jahres erheblich erschwert und behindert wurde, nun in vollem Umfange wieder aufgenommen. Vor allem werden die Rollbahnen ausgebessert und weitere Zubringer-Straßen angelegt. Den ganzen Tag über laufen mehrere Betonmischmaschinen mit einem Fassungsvermögen von 500 Litern, und die Trucks fahren den Beton so schnell heran, daß die einzelnen Kommandos mit dem Verteilen und Planieren der steifen Masse kaum Schritt halten können. Wo Straßenbaumaschinen eingesetzt werden, ist die Arbeit zwar leichter, aber nicht weniger anstrengend, weil das Arbeitstempo von den Maschinen vorgegeben wird, die unaufhaltsam vorwärts rollen.

 

Ich selbst bin zur Zeit noch beim Transportkommando und nicht bei dieser Knochenarbeit eingesetzt. Wir verladen und entladen weiterhin vorwiegend Baumaterial, Werkzeuge und Geräte. Am Mittwoch (13.02.) fahren wir wieder einmal – dieses Mal bei herrlichem Sonnenschein – nach Mannheim, um Beton- und Tonrohre zu holen. Am Freitag (15.02.) gibt es vor- und nachmittags jeweils eine Fahrt nach Frankfurt, um von einer Gießerei Eisenrohre abzuholen, und am Montag (18.02.) fahren wir noch einmal in die Stadt. Dieses Mal nimmt der Einsatz den ganzen Tag in Anspruch, weil wir aus einer zerbombten Fabrik einen großen Heizkessel abholen müssen, der im ganzen nicht zu bewegen ist und daher in mehrere Teile zerlegt werden muß.

 

Bei solchen Ganztagsfahrten bekommen wir mittags jeweils eine K-Ration und eine Dose Lemon- oder Grapefruit Juice. Das ist uns lieber als das ständig schlechter werdende Mittagessen im Lager. Die am Abend ausgegebenen Essenmarken können später nicht mehr eingelöst werden, weil sie nur an dem Tage gelten, der mit einem Datumstempel auf ihnen vermerkt ist. So verfallen sie einfach, wenn wir mittags nicht im Lager sind.

 

An den Tagen ohne Besorgungsfahrten wird das Transportkommando im Lager zu Aufräumungsarbeiten eingesetzt, was aber in keiner Weise mit den „Clean-up-the-area“-Einsetzen im „Camp Philip Morris“ zu vergleichen ist, wo es leichte Arbeit und massenhaft leckere „Zusatzverpflegung“ (Schokolade, Konserven) in den Trash-Kübeln zu finden gab. Hier müssen wir Fahrzeuge und Geräte reinigen oder Baustoffe (Rohre, Schalbretter, Stahlmatten, Ziegel- und Betonsteine) stapeln, also Schwerarbeit leisten.

 

Am Dienstag (19.02.) gehen die Kompanieführer noch einmal durch die Baracken, um alle, die sich dienstverpflichten lassen wollen, namentlich zu erfassen. Dabei lassen sie durchblicken, daß diejenigen, die sich dazu nicht gemeldet haben, eventuell „zwangsdienstverpflichtet“ werden sollen, was ein glatter Verstoß gegen die Genfer Konvention zum Schutze der Kriegsgefangenen wäre. Doch es steht offensichtlich im Belieben der Amerikaner, sich daran zu halten oder nicht. Jedenfalls eröffnen sich für uns nicht gerade rosige Aussichten. Wieder einmal spüren wir, wie schutz- und rechtlos wir der Willkür unserer „Gewahrsamsmacht“ ausgeliefert sind. Obwohl wir den Amis eine solche Erpressung durchaus zutrauen, meldet sich niemand zusätzlich für die Dienstverpflichtung, denn wir wissen aus Erfahrung, daß nichts schlimmer ist, als wenn man sich, wenn es einem dreckig geht, auch noch sagen muß: „Ich bin an meinem Unglück selber schuld!“ Deshalb warten wir lieber ab, wie sich die Dinge entwickeln werden, in der stillen Hoffnung allerdings, daß es nicht ganz so schlimm werden möge.

 

Am Mittwoch (20.02.) fahren wir vom Transportkommando noch einmal nach Mannheim, um aus einem Depot Baustahlmatten und Moniereisen zu holen. Auf der Rückfahrt erleben wir dann nicht nur Regen- und Graupelschauer, sondern auch ein schweres Gewitter, das unseren Fahrer aber nicht daran hindert, ohne Aufenthalt durchzufahren. Am Donnerstag (21.02.) müssen wir dann bei wechselhaftem Wetter im Lager aufräumen. Allerdings dürfen wir uns bei den schlimmsten Regen- und Graupelschauern irgendwo unterstellen. Trotzdem werden wir durch und durch naß, unter den Regenmänteln vom Schwitzen und außen durch den Segen von oben.

 

Abends erklärt mir Anton Huhn dann, er habe „endgültig die Schnauze voll“ und werde morgen abhauen. Er will zunächst mit der Bahn von Frankfurt nach Marburg fahren und von dort aus den Pendelzug Marburg-Warburg benutzen. In Warburg kann er dann bei meinen Angehörigen Rast machen, und er hofft, daß sie ihm irgendwie weiterhelfen können. Als Andenken schenkt er mir seine Sani-Schere, die mir auch nach fast 60 Jahren noch gute Dienste tut, einige Heftpflaster und ein Fläschchen Jodtinktur, sowie – zu meiner großen Überraschung – auch ein Paar Pantoffel, die er für seine Frau angefertigt hat, nun aber als unnötige Belastung empfindet. Ich schicke sie am Samstag meiner Mutter, die sich sehr darüber freut.

 

Nachdem alles besprochen worden ist, holt er seine Fluchtkleidung aus dem Versteck, packt sie unter sein Bett und versucht, noch etwas zu schlafen. Das gelingt allerdings nur vorübergehend, denn ich höre ihn ein paarmal kurz schnarchen, aber zum Durchschlafen ist er wohl zu aufgeregt und auch das Reisefieber scheint ihn schon ergriffen zu haben. Am Freitagmorgen (22.02.) besteigt er bei lebhaftem Schneetreiben den Krankentransporter und am Samstagnachmittag ist er bereits bei meinen Eltern in Warburg, wo er über Sonntag bleibt. Wie es sein Glück will, befindet sich in der Wanderer-Arbeitsstätte, die mein Vater leitet, eine Durchgangsstelle für Flüchtlinge. Der leitende Arzt stellt ihm einen Flüchtlingsausweis aus, und so kann Anton getrost nach Lägerdorf bei Itzehoe fahren, wo ihn Frau und Tochter sicher sehnlichst erwarten.

 

Mein anderer Bettnachbar, Alfons Thaler, ist stark erkältet und hat hohes Fieber. Er fürchtet, eine Lungenentzündung zu bekommen und fährt mit demselben Transport wie Anton Huhn zum Bürgerhospital. Wahrscheinlich ist er von dort aus nach Hause entlassen worden, denn er kehrt nicht mehr in unser Lager zurück.

 

So gibt es nun schon vier leere Betten in unserer Baracke. Ich denke unwillkürlich an die letzten Schultage, als ständig Mitschüler zur Wehrmacht einberufen wurden und in unserer Klasse immer mehr leere Plätze entstanden. Dabei sind wir mit nur vier Abgängen noch am wenigsten betroffen, denn aus anderen Baracken sind schon wesentlich mehr Leute von der Fahne gegangen. Selbst am Samstag (23.02.), der wegen Dauerregens für arbeitsfrei erklärt wird, werden bei der Rückkehr des Krankenwagens wieder etliche neue „Abgänge“ festgestellt. Das mag auch der Grund dafür sein, daß um 19 Uhr trotz strömenden Regens eine Kompaniebesprechung mit dem Ziel anberaumt wird, eine Massenflucht noch im letzten Augenblick zu verhindern.

 

Stabsfeldwebel Utsch erläutert uns die weitere Planung, nach der in der kommenden Woche zunächst 25 Mann von denen, die sich dienstverpflichtet haben, für zwei Wochen in Urlaub geschickt werden sollen. Wenn sie planmäßig zurückkehren, sollen schubweise alle diejenigen folgen, die beim Ami als Zivilisten weiterarbeiten wollen. Danach soll dann die allgemeine Entlassung beginnen.

 

Damit dementiert er praktisch eine Meldung der „FRANKFURTER RUNDSCHAU“, wonach alle Gefangenen der 7. US-Armee, zu denen auch wir gehören, an die 3. US-Armee überstellt werden sollen. Er erklärt uns dazu, der Lagerkommandant habe gesagt, mit der Entlassung sei „alles okay“. Dabei läßt er allerdings offen, ob er die Entlassung aller meint oder nur derjenigen, die sich dienstverpflichtet haben. Auf jeden Fall aber sollen in der kommenden Woche die ersten 25 Mann, die in die US-Zone entlassen werden wollen, versuchsweise in Urlaub fahren können.

 

Dazu ist allerdings eine umständliche Prozedur vorgesehen, denn zuerst sollen sie in das DEF-E-12 (Disarmed Enemy Forces – Enclosure Nr. 12) nach Babenhausen gebracht und dort offiziell entlassen werden. Danach sollen sie hierher zurückkehren, ihre Arbeitsverträge unterschreiben und dann für zwei Wochen in Urlaub fahren. Nach ihrer Rückkehr sollen sie in das für sie in der Nähe von Walldorf eingerichtete Wohnlager einziehen. Wenn alle aus dem Urlaub zurückgekehrt sind, soll dann die nächste Rate auf den Weg gebracht werden.

Zur Zeit – erklärt er uns weiter – würden von Frankfurter Rechtsanwälten die Arbeitsverträge ausgearbeitet, und nach ihrer Fertigstellung werde ein Exemplar zur Einsichtnahme in der Besuchsbaracke ausgelegt. Das während der Gefangenschaft von uns verdiente Geld – bei einem geschätzten Dollar-Wechselkurs von 10 RM im Durchschnitt 1000 bis 1200 Reichsmark – werde ausgezahlt, sobald für Deutschland ein amtlicher Wechselkurs festgesetzt worden sei. Unser Arbeitsentgelt sei nämlich in Dollar berechnet worden, wobei ein Tagesverdienst von 80 Cent – etwa 10 Cent pro Arbeitsstunde – zugrunde liege. Wenn diese Aktion beendet sei, würden diejenigen entlassen, die sich nicht dienstverpflichtet hätten, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß der Firma Holzmann genügend Zivilarbeiter zur Verfügung ständen. Der Appell dauert eine gute Stunde und versorgt uns für dieses Wochenende mit reichlich neuem Gesprächsstoff.

 

Der Sonntag (24.02.) ist leicht bewölkt und sonnig. Das einzige Gesprächsthema dreht sich um Flucht oder Entlassung. Mancher, der schon geplant hatte, sich aus dem Staube zu machen, verschiebt diesen Plan zunächst, um schließlich doch auf geradem Wege entlassen zu werden. Doch während der ganzen kommenden Wochen rührt sich in dieser Angelegenheit überhaupt nichts. Auch die bereits ausgesuchten 25 Männer werden nicht nach Babenhausen gebracht, sondern wie immer zum Arbeitseinsatz geschickt.

 

Ich werde während dieser Woche wieder dem Transportkommando zugeteilt. Am Montag (25.02.) fahren wir bei strahlendem Sonnenschein nach Frankfurt, um aus einer früheren Flakkaserne noch brauchbare Heizungsteile zu holen. Am Dienstag (26.02.) geht die Fahrt nach Mannheim, um von einem Baudepot Baustahlmatten, Moniereisen, Flacheisen und Drähte herbeizuschaffen, alles Materialien, die zur Armierung von Stahlbetonkonstruktionen benötigt werden. Im Depot treffen wir einige kürzlich entlassene PWs, die hier als Zivilisten arbeiten und uns beim Aufladen helfen. Sie erzählen uns, daß aus ihrem Lager nicht nur die Dienstverpflichteten, sondern auch alle übrigen Gefangenen entlassen wurden und das ganze Lager aufgelöst worden sei.

 

In unserem Lager müssen wir indessen während der restlichen Tage dieser Woche Baracken aufstellen, in denen – wie es heißt – außer uns noch weitere 130 Gefangene untergebracht werden sollen. Auch am Donnerstag (28.02.), als es schneit, daß man die Hand kaum vor den Augen sehen kann, wird die Arbeit fortgesetzt, als ob ein bestimmter Termin einzuhalten wäre. Einerseits Lagerschließung – andererseits Lagererweiterung, das sind Vorgänge, die wir nicht auf einen Nenner bringen können. Doch beim Ami ist man – das lehrt die bisherige Erfahrung – vor keiner Überraschung sicher, und wir sind ja nur die schutz- und wehrlose Manövriermasse ihrer Planspiele.

 

Am Sonntag (03.03.), der zwar arbeitsfrei ist, sich sonst aber in nichts von einem normalen Wochentag unterscheidet, erhalten die 25 Ausgesuchten – die allerdings nicht nur aus der US-Zone, sondern aus allen vier Besatzungszonen und sogar aus den polnisch verwalteten Ostprovinzen stammen – die Anweisung, ihre Sachen zu packen und sich an Montagmorgen für den Abtransport bereit zu halten.

 

Inzwischen ist das ewige Vertrösten auf später und die Warterei als erstem aus der „Sankt Pauli Bar“, wie wir unser Zelt in Gainneville genannt haben, auch Paul Müller zu bunt geworden. Er ist das ständige Hin und Her leid und seine Geduld ist auch am Ende. So verabschiedet er sich im stillen von uns, besteigt am Montagmorgen (04.03.) den Krankentransportwagen und beginnt so seine Flucht nach Meerane in Sachsen in der sowjetischen Besatzungszone, wo er – wie er mir danach schreibt – nach drei Tagen wohlbehalten ankommt.

 

Nach dem Frühstück fahren die 25 zur Entlassung Vorgesehenen tatsächlich nach Babenhausen, durchlaufen dort die vorgeschriebenen Formalitäten und können noch am selben Tage in Urlaub fahren. Wie wir erfahren, haben sie auch das bei der Registrierung abgenommene Geld zurückbekommen und dazu noch einen Gutschein – meist in Höhe von 140 Dollar – über das in der Gefangenschaft verdiente Geld. Vor ihrer Abreise aber mußten sie sich noch einmal durch ihre Unterschrift verpflichten, nach ihrer Rückkehr bei der Philipp Holzmann AG zu arbeiten. Von einem schriftlichen Arbeitsvertrag war keine Rede mehr. Nach ihrer Rückkehr sollen sie dann das Wohnlager bei Walldorf beziehen, wo ihnen drei Mahlzeiten aus der Ami-Küche und ein Monatslohn von 20 Dollar zugesagt werden. Für die Verpflegung werden allerdings pro Tag 15 Cent vom Lohn einbehalten. Inwieweit diese Ankündigungen nachher tatsächlich vollzogen werden, erfahren wir allerdings nicht mehr.

 

Alle übrigen aber müssen an diesem Rosenmontag und am Dienstag (05.03.) trotz immer wieder auftretender Regenschauer weiter neue Baracken aufstellen. Am Dienstagabend geht der Kompanieführer durch die Baracken und teilt im Auftrage des Kommandanten mit, daß noch bis Mittwochmorgen (06.03.) um 9 Uhr Gelegenheit sei, sich zur Dienstverpflichtung zu melden. Inzwischen hat man uns so „weichgekocht“, daß wir endlich unsere Ruhe haben wollen und uns an diesem Aschermittwoch, an dem ich Barackendienst habe, geschlossen in die Liste der Dienstverpflichteten eintragen lassen. Dazu haben wir uns nach langen Debatten bis in die vergangene Nacht hinein  doch noch durchgerungen.

Wir sind inzwischen körperlich und geistig derart angeschlagen, daß wir einfach keinen Widerstand mehr leisten können. Eingeschüchtert und in die Enge getrieben, sehen wir keinen anderen Weg mehr, um in absehbarer Zeit aus diesem elenden Drahtkäfig hinauszukommen. Durch das lange Eingesperrtsein, die ständige Gängelei und die immer schlechter werdende Verpflegung sind wir so mürbe geworden, daß wir ungefähr alles unterschrieben hätten, um diesem Elend zu entkommen. Dabei hat niemand die Absicht, wenn er erst einmal frei ist, jemals nach hier zurückzukommen. Wenn wir erst einmal zu Hause sind, werden wir weitersehen, denn eine erpreßte Unterschrift sehen wir nicht als verpflichtend an.

 

Seit Anton Huhn und Paul Müller geflüchtet sind, habe ich niemanden mehr, mit dem ich mich ähnlich gut verstehe und meine Gedanken austauschen kann. Ich bemühe mich zwar, mit allen gut auszukommen, doch ein so freundschaftliches Verhältnis wie mit diesen beiden kommt nicht mehr zustande. So bin ich schon froh, daß ich von den anderen, die wesentlich älter sind als ich, überhaupt für voll genommen werde. Dabei wundere ich mich vor allem darüber, wie offen Leute, die doppelt so alt sind wie ich, ihre Familienprobleme mit mir besprechen. Allerdings bin ich auch manchem dadurch nützlich, daß ich schriftliche Arbeiten für ich erledige.

 

Willy Günscht läßt mich sogar die Korrespondenz mit seiner Frau vollständig führen. Er kann zwar sehr gut und spannend erzählen, tut sich aber äußerst schwer beim schriftlichen Formulieren. So sagt er mir nur, was ich schreiben soll, und überläßt es mir , seine Gedanken in die passenden Worte zu fassen. Darüber ist seine Frau sehr froh, denn so erfährt sie wesentlich mehr und präziser, was im Kopf ihres Mannes so vorgeht. Mir aber verschafft diese Tätigkeit das gute Gefühl, gebraucht zu werden und mich nützlich machen zu können.

 

Überhaupt bringen mir diese Wochen, in denen die Stimmung immer schlechter wird, eine Menge Einblicke in das wirkliche Leben. Denn hier sind alle Landsmannschaften und alle Berufe vertreten, und in dieser Ausnahmesituation haben die Älteren nicht nur keine Hemmungen, sondern oft sogar das Bedürfnis, ihr bisheriges Leben und Erleben mit anderen zu diskutieren. So erfahre ich Dinge, von denen ich nicht die geringste Ahnung hatte und gewinne Einblicke in Verhältnisse, die ich mir bisher überhaupt nicht vorstellen konnte. Der ständig auf uns lastende äußere Druck erzeugt eine Leidensgemeinschaft, die auch eine gewisse Geborgenheit gewährt. Nur durch Einigkeit im Inneren können wir den ständigen Druck von außen überhaupt ertragen, ohne verrückt zu werden.

 

Während der ganzen Woche – es ist bereits meine 46. Woche hinter Stacheldraht – arbeiten die verschiedenen Kommandos an der Fertigstellung des Nissenhütten-Lagers und der Rundstraße um die Rollbahn. Das Tower-Kommando hat das Keller- und Erdgeschoß besenrein abgeliefert und damit seine Aufgabe erfüllt. Ich arbeite jetzt im Straßenbau und muß vor der Maschine, die den Beton festrüttelt und glättet, die von den LKWs abgekippten Betonhaufen auseinander schaufeln. Das ist nicht nur eine schwere körperliche Arbeit, sondern sie wird auch noch durch das Vorrücken der hinter mir arbeitenden Straßenbaumaschine in ihrem Tempo bestimmt.

 

Nach dem Abendessen am Samstag (09.03.) gehen die Kompanieführer mit Listen durch die Baracken, in denen von jeder Kompanie zehn Gefangene verzeichnet sind, die als nächste entlassen werden sollen. Aus unserer Baracke gehört Ernst Gustke zu den vierzig Glücklichen. Er war in Zelt 7 in Gainneville mein Bettnachbar und ist hier unser Barackenältester. Da er uns nun verlassen wird, wählen wir den Ostpreußen Heinz Krüger, den einzigen Stabsgefreiten in unserer Mitte, zu seinem Nachfolger.

 

Am Sonntag (10.03.) wird nach elf Wochen in der Kirchenbaracke wieder einmal eine katholische Messe gefeiert. Wegen der beginnenden Fastenzeit – die bei uns allerdings mit der Umstellung des Heeres- auf den zivilen Verpflegungssatz spürbar begonnen hat – ist vorher zwei Stunden Beichtgelegenheit, die auch von allen katholischen Lagerinsassen wahrgenommen wird. Eigentlich ist es überflüssig, uns in eine Fastenzeit einzustimmen, denn die Verpflegung ist so unzureichend, daß wir notgedrungen fasten müssen und wohlgenährte Gestalten längst zu einer Rarität geworden sind. Wir sind durchweg genauso hohlwangig und unterernährt wie die Zivilisten, die hier beim Ami arbeiten.

 

Der Montag (11.03.) ist genau so wolkenverhangen, kalt und trocken wie die beiden Vortage. Während die am Sonntag – ohne Rücksicht darauf, ob sie sich dienstverpflichten lassen wollten oder nicht – zur Entlassung ausgesuchten vierzig Mitgefangenen nach Babenhausen gebracht und dort durchgeschleust werden, wird unsere ganze Kompanie zum Betonieren der Rundstraße eingesetzt.

 

Am Dienstag (12.03.), meinem 21. Geburtstag, melde ich mich – um den beschwerlichen Betonarbeiten zu entkommen – wieder zum Transportkommando. Doch dieses Mal habe ich mich verrechnet und komme geradezu vom Regen in die Traufe. Wir fahren nämlich nach Offenbach, um losen Kalk zu holen. Er muß aus einem offenen Güterwagen auf unseren LKW geschaufelt werden. Das staubt gewaltig, und der feine Kalkstaub dringt sofort in Nase und Ohren ein, ganz abgesehen davon, daß wir in kurzer Zeit wie Schneemänner aussehen. Die schwarzen Drillichhosen werden weiß und das mit weißer Lackfarbe darauf gepinselte „PW“ erscheint – weil die Lackfarbe den Staub nicht annimmt – dunkler als die Hose. Auch unsere Mützen bieten kaum Schutz vor dem feinen Kalkpulver, das sich in den Augenbrauen und auf den Wimpern festsetzt. Obwohl wir hier in Frankfurt nicht jeden Montag mit sauberer Kleidung zur Arbeit erscheinen müssen, macht es uns später große Mühe, die total eingekalkte Kleidung wieder einigermaßen sauber zu bekommen.

 

Ich könnte mich nicht erinnern, jemals einen mißrateneren Geburtstag verlebt zu haben. Dafür fällt es mir nach dieser Erfahrung aber etwas leichter, mich am Mittwoch (13.03.) wieder am Beton-Straßenbau zu beteiligen. Abends um 19 Uhr müssen wir zum Appell vor der Aufsichtsbaracke antreten. Zunächst geht es darum, die verbliebene Belegschaft gleichmäßiger auf die Baracken zu verteilen. Da unsere Mannschaft nach dem Abgang von Ernst Gustke auf 14 Mann geschrumpft ist, werden uns vier Leute aus einer voll belegten Baracke zugewiesen, die aber auch zur UTsch-Kompanie gehören.

 

Doch dann kommt der Lagerkommandant zu seinem eigentlichen Anliegen. Durch seinen Dolmetscher läßt er uns sagen, daß er festgestellt habe, daß wir die Vorschriften über den Postverkehr ständig mißachteten. Deshalb werde ab sofort ein Posten den Krankentransport begleiten, der darauf zu achten habe, daß keine illegalen Paketsendungen befördert würden, und der gleichzeitig sicherstellen werde, daß alle, die sich krank gemeldet hätten, auch wirklich ins Bürgerhospital gingen und die Fahrt weder zur Flucht noch zu einem Besuch in Kelsterbach mißbrauchten. Durch diese Maßnahme wird der bisher reibungslos verlaufene Postverkehr natürlich empfindlich gestört, und es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns nach einer Ziviladresse umzusehen, über welche die Post nun laufen kann. Ich wende mich deshalb an den Bekannten von Anton Huhn, und gegen Zigaretten und Tabak ist er bereit, meine Post über seine Anschrift laufen zu lassen. So lautet meine Anschrift jetzt „bei Eduard Schüttkowski, (16) Kelsterbach am Main, Staufenstraße 1“ und funktioniert, weil er täglich zu uns ins Lager kommt, genauso gut wie zuvor. An diesem Abend aber kehren wir aufgebracht und wütend in unsere Baracken zurück und schimpfen noch stundenlang über diese neue Schikane.

 

Am Donnerstag (14.03.) kommt dann eine „Entlassungskommission“, bestehend aus einem Oberleutnant, einem Stabsarzt und einer Sekretärin, die alle drei gut Deutsch sprechen, ins Lager, um aus denen, die sich zur Dienstverpflichtung gemeldet haben – in unserem Falle ist es die gesamte Barackenbelegschaft – die dritte Rate der zu Entlassenden zusammenzustellen. Dieses Mal werden aus jeder Kompanie 25 Mann, insgesamt also 100 Personen, ausgesucht. Aus unserer Baracke sind vier Mitgefangene dabei, nämlich Albert Baum, Josef Garschhammer, Willy Günscht und Heinz Krüger. Damit haben wir schon wieder keinen Barackenältesten mehr, also wird der Badenser Erich Haßler, als dienstältester Obergefreiter in dieses Amt gewählt.

 

Den Ausgesuchten werden sofort Entlassungsscheine ausgehändigt, in die nur noch der Name einzusetzen ist. Sie werden auch nicht nach Babenhausen gebracht, sondern gleich von hier aus losgeschickt, allerdings mit dem Hinweis, daß frühere Mitglieder der NSDAP, die zufällig unter ihnen sein sollten, nach dem Urlaub nicht nach hier zurückkehren dürften, da sie nicht würdig seien, für die US Army zu arbeiten. Die übrigen aber sollen sich in vierzehn Tagen im Wohnlager bei Walldorf zum Arbeitsantritt melden.

 

Am Sonntag (17.03.), dem zweiten Fastensonntag, ist kein Gottesdienst im Lager. Bei wolkig bis heiterem Wetter können wir uns auch im Freien aufhalten. Die Stimmung ist wieder einmal so schlecht wie das Essen. So kommt kaum ein Gespräch zustande, denn die meisten brüten schweigend vor sich hin und überlegen, warum sie nicht bei den zu Entlassenden waren. Die Besuchserlaubnis am Nachmittag besteht zwar weiterhin, aber der Andrang in der Besuchsbaracke wird nach jedem Entlassungsschub geringer. Vor allem macht es sich auch bemerkbar, daß der Besuchskontakt zu den Bewohnerinnen von Kelsterbach wegen der Erschwernisse beim Krankentransport nicht mehr in gewohnter Weise gepflegt werden kann.

 

Über Nacht setzt dann eine Schönwetterperiode ein und bereits am Montag (18.03.) scheint den ganzen Tag die Sonne. Trotz der üblen Erfahrung an meinem Geburtstage melde ich mich wieder zum Transportkommando. Dort vergeht die Zeit wesentlich schneller und ist es auch viel abwechslungsreicher und interessanter als bei der sturen Arbeit im Straßenbau, wo die Zeit einfach nicht vergehen will. Heute fahren wir nach Frankfurt, um aus einer früheren Kaserne einen noch brauchbaren Warmwasser-Boiler zu holen. Die übrige Kompanie arbeitet unterdessen die ganze Woche an der Rundstraße, die inzwischen etwa zu einem Drittel fertiggestellt ist. Da von Mittwoch (20.03.) bis Freitag (22.03.) kein Transportkommando zusammengestellt wird, muß ich an diesen drei Tagen wieder mit im Straßenbau arbeiten.

 

Nach dem Abendbrot am Mittwoch wird die vierte Rate für die Entlassung zusammengestellt, und zwar aus jeder Kompanie 50 Mann, insgesamt also 200 Personen. Aus unserer Baracke sind wieder vier Mitgefangene dabei, nämlich Alfred Gärtner, Franz Geier, Erich Gödert und Erich Haßler. Und zwar werden am Samstag gleich 140 Mann vor hier aus entlassen, die restlichen 60, zu denen auch die vier aus unserer Baracke gehören, werden am Montag (25.03.) nach Babenhausen gebracht, von wo aus sie spätestens am Dienstag entlassen werden sollen. Da wir mit Erich Haßler wieder unseren Barackenältesten verlieren werden, schlägt er mich als seinen Nachfolger vor, und ich werde – obwohl ich altersmäßig der Jüngste bin - auch einstimmig zum Barackenältesten gewählt.

 

Bis es mit der Entlassung dieser Rate soweit ist, müssen aber alle noch im Rahmen unserer Kompanie mit Hochdruck am Nissenhütten-Wohnlager arbeiten, das am 15. April bezogen werden soll. Ich melde mich am Samstag zu einem Holz-Transportkommando. Mit zwei LKWs und acht Leuten holen wir gefällte Fichtenstämme aus dem Walde und bringen sie nach Mainz-Kastel, wo sie in einem Sägewerk zu Bau- und Schalholz verarbeitet werden.

 

Am nächsten Sonntag (24.03.) ist das Wetter wieder einmal genauso trübe wie unsere Stimmung. Immer wenn wir zur Ruhe kommen, taucht der alte Ärger darüber auf, daß wir immer noch bei dieser miesen Verpflegung eingesperrt sind und schwer arbeiten müssen, während viele andere längst zu Hause sind und ihr weiteres Leben planen können. Je mehr sich die Baracken leeren, desto schlechter wird die Laune der Zurückgebliebenen.

 

Ab Montag (25.03.) wird das Holzkommando auf drei LKWs und zwölf Mann erweitert. Wir fahren wieder in den Wald und laden Bäume auf, die uns ein farbiger Texaner bezeichnet. Im Sägewerk werden sie zwar abgekippt, doch zum Gatter müssen wir sie selbst bugsieren. So bringen wir täglich vier Fuhren zu einem Sägewerk in Groß Gerau. Hin und wieder – wie etwa am Freitag (29.03.) – fahren wir auch zu einem großen Sägewerk nach Mainz-Kastel, bringen ausgesuchte Stämme dorthin und nehmen auf dem Rückwege fertige Bretter und Bohlen mit.

 

Von der ursprünglichen Besatzung sind in unserer Baracke mittlerweile nur noch fünf Mann übrig: Willy Gaubitz, Hans Haltmayr, Gustav Hasselbach, Fridolin Heilmann und ich. Mit den vier Gästen aus unserer Kompanie zusammen haben wir es jetzt recht gemütlich in unserer 20-Mann-Baracke. Vor allem habe ich von Erich Haßler dessen Eckplatz übernommen, der mit einem kleinen Regal, einem dreieckigen Wandbrett, einem Wandschrank und vor allem mit einer Bett-Lese-Lampe ausgestattet ist. Leider können wir auf der Baustelle nur 110-Volt-Birnen organisieren. An unserer 220-Volt-Leitung sind sie zwar äußerst hell, aber nur von kurzer Lebensdauer, so daß der Verschleiß an Birnen ziemlich hoch ist und es mit der Zeit immer schwieriger wird, in fremden Baracken und Nissenhütten Glühbirnen zu finden.

 

Allerdings können wir diese Beschaulichkeit nicht lange genießen, denn am Montagabend bekommen wir eine siebenköpfige Einquartierung aus dem aufgelösten Lager Eschborn. Es sind sehr junge Leute, die zum Schluß des Krieges noch von der Schulbank weg als Luftwaffenhelfer einberufen worden sind. Sie sind laut und undiszipliniert und bringen eine Unruhe in unsere Baracke, die uns überhaupt nicht gefällt.

Bevor sie sich überhaupt an das Leben in einer Gemeinschaft gewöhnen konnten, sind sie bereits in Gefangenschaft geraten und stören uns durch ihr lautes und unstetes Verhalten derart, daß wir kaum noch dazu kommen, in Ruhe einen Brief zu schreiben, zu lesen oder ein Nickerchen zu machen. Und gegen eine solche Meute wilder Hummeln kann auch ich als Barackenältester kaum etwas ausrichten.

 

Bei dem Ärger über diese unwillkommene Einquartierung wird uns wieder eindringlich bewußt, wie hilflos wir jeder Willkür der Lagerleitung ausgesetzt sind. Über unsere Köpfe hinweg wird einfach über uns verfügt, und wir müssen alles erdulden, ob es uns nun paßt oder nicht.

Auch mit der Post klappt es nicht mehr, weil mein Gewährsmann Briefe, die ich sehnlichst erwarte, einfach tagelang liegen läßt, bevor er sie mir bringt. Allerdings fährt schon seit einiger Zeit kein Posten mehr mit dem Krankentransport in die Stadt, weil die drei Amis sich geweigert haben, sich jeden dritten Tag in der zerstörten Stadt zu langweilen und auf die Rückfahrt zu warten. Also lasse ich meine Post wieder über das Bürgerhospital laufen und habe damit die Gewähr, daß ich die dort eingehenden Briefe wenigstens sofort erhalte.

 

Seit der Entlassung der 60 Mitgefangenen am 26. März ist auf diesem Gebiet nichts mehr geschehen. Wie es heißt, ist der für die Entlassung zuständige Offizier in Urlaub gefahren und kommt erst am 8. April zurück. Diese ewige Warterei, die Ungewißheit über unsere Zukunft und der ständige Ärger mit unseren jungen Barackengenossen zerren an den Nerven, und die Stimmung wird immer gereizter. Zu allem Überfluß wird der ohnehin unzureichende Verpflegungssatz mit dem Beginn der 87. Zuteilungsperiode am 1. April auf nur noch 1270 Kalorien pro Tag herabgesetzt. Es kommt uns vor, als wollte man uns mit aller Macht in die Dienstverpflichtung treiben, ja, als sei den Amis das Lager auf dem Rhein-Main Flughafen nur noch lästig.

 

Obwohl wir weiterhin körperlich schwer arbeiten müssen, wird die Verpflegung ständig schlechter. So wird neben der Entlassung auch die Verpflegung wieder zum „Thema eins“ im Lager. Tatsache ist: wir werden nur noch selten satt, und die Kleidung, die einmal prall am Körper saß, hängt schlotternd um uns herum wie bei einer Vogelscheuche. Als zusätzliche Schikane empfinden wir auch die zu allem Überfluß noch verfügte Verlängerung der Arbeitszeit um volle zwei Stunden täglich.

 

Das alles führt zu einer Nervosität und allgemeinen Gereiztheit, wie wir sie seit dem „Straflager Bolbec“ nicht mehr erlebt haben. Da bringt auch die kümmerliche Marketenderware, die am Dienstagabend (02.04.) ausgegeben wird, keine bessere Stimmung. Wo sich bohrender Hunger bemerkbar macht, da sinkt die Begeistungsfähigkeit schnell auf den absoluten Nullpunkt. Das einzig Tröstliche an dieser Lage ist das herrliche Frühlingswetter, das drei Wochen anhält und draußen alles zum Grünen und Blühen bringt. Dabei haben wir vom Holzkommando noch den Vorteil, daß wir viele Stunden des Tages dem tristen Lager entfliehen und im frühlings-frischen Walde sein können.

 

Samstag, der 6. April, ist „Army Holiday“ und wegen fehlender Aufsicht für uns arbeitsfrei. Das trifft sich sehr gut, denn ausgerechnet heute macht das schöne Wetter eine Pause, und es regnet den ganzen Tag wie aus Kübeln gegossen. Also müssen wir ständig in der Baracke bleiben, wo wir uns gegenseitig gehörig auf die Nerven gehen. Seit wir auf 16 Personen aufgestockt worden sind, empfinden wir die quälende Enge unserer Unterkunft wesentlich stärker als am Anfang, als wir mit 20 Mann in harmonischer Gemeinschaft gelebt haben. Natürlich tragen auch die äußeren Umstände, die sich ständig verschlechtert haben, dazu bei, daß der Aufenthalt in der Baracke keine Erholung mehr bringt, sondern zu einer zusätzlichen Nervenbelastung geworden ist.

 

Mit dem folgenden Sonntag (07.04.) setzt sich dann die Schönwetterperiode fort. Das hat den Vorteil, daß unsere jungen Mitbewohner den ganzen Tag unterwegs sind und wir Älteren uns einen ruhigen Tag gönnen können. Dafür müssen wir uns abends allerdings ihre Berichte über gewisse Begegnungen in der Besuchsbaracke wohl oder übel anhören.

 

 Am Montag (08.04) gibt es binnen einer Woche schon zum zweiten Mal Marketenderware. Allerdings ist sie längst nicht mehr so reichhaltig wie früher und erfreut lediglich unsere jungen Gäste, die in Eschborn überhaupt keine Marketenderware bekommen haben. Hier gibt es wenigstens ein paar Kämme, Toilettenseife, Rasierklingen und zwei Beutel Bull Durham Tobacco pro Person. Abends geht unser Kompanieführer durch die Baracken und teilt uns die neue Arbeitszeitregelung mit, die ab Dienstag gilt und wieder etwas milder ist als während der letzten Verlängerung. Künftig dauert die Arbeitszeit von 7 bis 12 und von 13 bis 18.15 Uhr.

 

Wir vom Holzkommando setzen am Montag und Dienstag den gewohnten Pendelverkehr zwischen dem Wald und den Sägewerken fort. Am Mittwoch (10.04.) aber steht für alle drei LKWs eine große Rundfahrt zu verschiedenen Sägewerken auf dem Programm. Das bedeutet: viel Fahrzeit und wenig Arbeitszeit, und ist uns natürlich hoch willkommen. Zunächst fahren wir nach Kelsterbach, wo wir die Fahrzeuge mit Fichtenstämmen beladen. Dann geht es über Raunheim und Rüsselsheim nach Mainz-Kastel. Hier laden wir die Stämme ab und Bretter und Bohlen auf. Dann fahren wir über Wiesbaden, Erbenheim und Frankfurt zurück nach Kelsterbach. Warum wir verschiedene Sägewerke aufsuchen ohne etwas auf- oder abzuladen, bleibt uns verborgen, weil die Amis nur unter sich verhandeln. Am Donnerstag, Freitag und Samstag (13.04.) fahren wir wieder in den Wald, wo frisch gefällte Fichten und Kiefern liegen, die teilweise noch nicht entastet sind. Wir laden allerdings nur fertig entastete glatte Stämme auf und bringen sie nach Mainz-Kastel.

 

Am Freitag (12.04.) verlassen 50 junge Ausländer (vor allem Tschechen und Österreicher), die angeblich nicht arbeitsfähig sind, das Lager. Damit verschwinden zum Glück auch vier der schlimmsten Störenfriede aus unserer Baracke, die uns allein schon wegen ihres Dialektes genervt haben. Dadurch gewinnt unsere alte Mannschaft auch zahlenmäßig wieder die Oberhand und kann für Ruhe sorgen. Für den Fall, daß die drei verbliebenen Gäste nicht parieren und weiterhin Unruhe stiften, stellen wir ihnen eine Tracht Prügel in Aussicht. Da ihnen vor allem die Handwerker unter uns körperlich überlegen sind, lassen sie es nicht auf einen Versuch ankommen, sondern fügen sich lieber unserer Barackenordnung.

Als Ersatz für die 50 Abgänge kommen am selben Abend 75 Angehörige der früheren Waffen-SS ins Lager, von denen unsere Baracke allerdings verschont bleibt. Dafür können wir sie aber erleben, wenn sie nach Feierabend durchs Lager ziehen, um uns auf ihre politische Linie zu bringen. Da wir jedoch keine Lust haben, uns die von ihnen verbreitete angestaubte Nazipropaganda oder gar die Erzählungen ihrer angeblichen Heldentaten anzuhören, werden sie uns mit der Zeit derart lästig, daß wir ihnen Barackenverbot erteilen müssen.

 

Kaum haben wir uns die SS-Leute vom Halse geschafft, da machen sich unsere jungen Gäste mausig. Sie empfangen Besuch und veranstalten Skatabende in unserer Baracke, bis wir ihnen unmißverständlich klarmachen, daß sie bei uns nur Gäste sind und sich nach unseren Regeln zu benehmen haben. Da sie wohl einsehen, daß sie bei einer körperlichen Auseinandersetzung mit Sicherheit den Kürzeren ziehen würden, fügen sie sich und gehen nun zum Skatspielen zu ihren Kumpels in andere Baracken. Und nach einer weiteren Aussprache begreifen sie auch, daß sie bei ihrer Rückkehr nicht jedesmal alle anderen aufwecken müssen, wenn sie sich auf die Dauer eine gehörige Tracht Prügel ersparen wollen.

 

Da wir vom Holzkommando die ganze Woche unterwegs waren, haben wir überhaupt noch nicht mitbekommen, daß zur Zeit auf dem Flughafengelände zur Truppenbetreuung ein Casino errichtet wird, das in der kommenden Woche mit aller Gewalt fertiggestellt werden soll. Deshalb wird uns trotz ständig schlechter werdender Verpflegung ein noch höherer Arbeitseinsatz abverlangt. Inzwischen hat sich allerdings herausgestellt, daß die Suppen nicht immer dünner geworden sind, weil die Kalorien gekürzt wurden, sondern weil die in den Küchen arbeitenden Zivilisten massenhaft Lebensmittel verschoben haben. Die ersten Bestrafungen und Hinauswürfe hat es bereits gegeben. Da zu Ostern wieder ein Kommandantenwechsel bevorsteht, hat es jetzt wenig Sinn, daß wir uns massiv über diese Mißstände beschweren und fordern, die Küchen mit Gefangenen zu besetzen. Im Augenblick bleibt uns deshalb nichts anderes übrig, als besonders wachsam zu sein und den Übeltätern bei passender Gelegenheit eine gehörige Tracht Prügel zu verabreichen.

 

Augenblicklich werden wir jedoch durch die Arbeit am Casino auf Trab gehalten. Selbst am Sonntag (14.04.) müssen die Arbeitskommandos ausrücken und von 8 bis 12 und von 13 bis 17 Uhr am Neubau des Casinos und der Straße dorthin arbeiten, desgleichen am Montag (15.04.) von 8 bis 12 und von 13 bis 18.30 Uhr. Da ist der Einsatz des Holzkommandos bei weitem angenehmer, vor allem auch deshalb, weil wir von einem Amerikaner beaufsichtigt werden und nicht von irgendwelchem Gesindel aus Ost- oder Südosteuropa, das sich auf die Seite der Sieger geschlagen hat und nun bei der US Army ein Parasitendasein führt. Erfahrungsgemäß ist mit den Amis weitaus besser auszukommen als mit Ukrainern, Polen, Tschechen oder Serben, die sich dadurch beim Ami lieb Kind machen wollen, daß sie uns nach Kräften schikanieren.

 

Dienstag (16.04.) ist aus einem uns unbekannten Grunde arbeitsfrei. So kann ich den Jahrestag meiner Gefangennahme bei strahlendem Sonnenschein in Ruhe verbringen und über alles nachdenken, was ich im Laufe des vergangenen Jahres in der Obhut der Amerikaner an Höhen und Tiefen erlebt habe. Am Mittwoch (17.04.) fahren wir noch einmal von 8 bis 12 und von 13 bis 18.30 Uhr in den Wald, dann wird das Holzkommando ersatzlos aufgelöst.

 

Gründonnerstag (18.04.) regnet es den ganzen Tag in Strömen. Das hindert die Amis aber nicht daran, uns von 8 bis 12 und von 13 bis 17 Uhr zur Arbeit zu schicken. Ich kann mich wieder einem Transportkommando anschließen und fahre mit fünf anderen vor- und nachmittags nach Zeppelinheim, wo wir Teerpappe-Rollen auf- und im Lager wieder abladen müssen. Das ist zwar keine schwere Arbeit, aber in unserem Falle sehr lästig, weil wir in Regenmänteln arbeiten müssen, die uns nur wenig Bewegungsfreiheit lassen.

 

Auch am Karfreitag (19.04.) ist die volle Arbeitszeit abzuleisten. Dabei werde ich einem Kommando zugeteilt, das den ganzen Tag - exakt von 8 bis 12 und von 13 bis 16 Uhr, also eine Stunde weniger als die anderen, die erst um 17 Uhr Feierabend haben – aus einem offenen Güterwagen Koks auf LKWs schaufeln muß. Das ist eine wahre Knochenarbeit, die nicht nur sehr schmutzig, sondern auch besonders anstrengend ist, weil wir keine Gabeln zur Verfügung haben und mit unseren Schaufeln schlecht zwischen die Brocken kommen und dadurch äußerst unrationell arbeiten müssen. Entsprechend schmerzen uns am Abend sämtliche Muskeln und Gelenke. Dafür ist aber am Karsamstag (2o.o4.) arbeitsfrei und, weil den ganzen Tag über die Sonne scheint, können wir uns auch im Freien aufhalten und ein wenig von den Strapazen der letzten Tage erholen.

 

Der Ostersonntag (21.04.) ist arbeitsfrei. Nach dem Mittagessen kommt ein katholischer Geistlicher ins Lager, der gut zwei Stunden lang Beichtgelegenheit anbietet und dann um 16 Uhr eine Ostermesse mit uns feiert. Danach steht er uns noch eine Stunde lang zur Aussprache zur Verfügung. Natürlich macht er uns Hoffnung auf eine baldige Entlassung, indem er mehrere Lager aufzählt, die bereits geschlossen worden sind. Dazu gehört auch das Lager Eschborn, aus dem unsere jungen Gäste kommen. Es ist also keinesfalls sicher, daß bei der Schließung eines Lagers automatisch auch alle Insassen entlassen werden.

 

Die Verpflegung ist an der Feiertagen keineswegs besser als sonst. Die Eintopfsuppen sind dünn, und wenn es einmal etwas anderes gibt, ist es viel zu wenig, um satt zu werden. Das einzig Positive ist wieder einmal das schöne Wetter, das auch während er ganzen Woche anhält. Am Ostermontag geht die Schinderei auf dem Güterbahnhof aber unvermindert weiter. Während ich im Schweiße meines Angesichts zusammen mit den anderen Kameraden vom Holzkommando den ganzen Tag Koks schaufeln muß, überlege ich, wie ich von dieser Knochenarbeit wegkommen kann. Denn hier ist es nicht nur die mühselige Quälerei, die auf die Nerven geht, sondern vor allem empfinden wir es als Ärgenis, von so einem zerlumpten Kerl aus Osteuropa angetrieben zu werden, der sich auf unsere Kosten beim Ami beliebt machen möchte. Er ist genau so ein Schwein, wie die Österreicher, die wir in Bolbec als „Lagerpolizei“ erlebt haben.

 

Also melde ich mich am Dienstagmorgen (23.04.) zu einem Kommando, das einem Sergeanten Berry untersteht. Dieses „Berry-Kommando“ ist 25 Mann stark und baut eine Beton-Rollbahn. Dabei  müssen die Nicht-Handwerker für den Nachschub an Kies, Sand und Zement sorgen. Aber es ist – verglichen mit der Plackerei mit dem groben und staubigen Koks – geradezu ein Vergnügen, Sand oder feinen Kies zu schaufeln.

 

Die Schönwetterperiode hält drei Wochen an. Dennoch kommen keine Frühlingsgefühle oder gar Freude auf. Dazu ist die Verpflegung im Verhältnis zu der von uns zu leistenden Arbeit mehr als unzureichend, und zwar nicht nur in der Menge, sondern vor allem in der Qualität. Wo es früher eine dicke, nahrhafte Suppe gab, höhnt der Koch jetzt: „Ein Schlag für die Nieren, meine Herrschaften!“, wenn er uns seine dünne Brühe verabreicht. Da bleibt denen, die in den Westzonen zu Hause sind, nichts anderes übrig, als Bettelbreife nach Hause zu schreiben und um Lebensmittelpäckchen zu bitten. Nur wenn so ein Päckchen mit Graubrot und Schinken ankommt, läßt sich der ständig knurrende Magen vorübergehend beruhigen.

 

Von einer allgemeinen Entlassung ist schon längst keine Rede mehr. In zwei Wochen kommen höchstens 20 bis 30 Kranke zusammen, die über das Bürgerhospital nach Hause geschickt werden. Man sagt uns, das hinge mit dem Wechsel des Lagerkommandanten zusammen. Sobald sich der neue Kommandant eingearbeitet habe, würden die Entlassungen wieder aufgenommen. So brüten wir während er Arbei dumpf vor uns hin und gehen uns nach Feierabend gegenseitig auf die Nerven, weil wir durch die Unterernährung reizbar und überempfindlich geworden sind.

 

Freitag, der 26. April, sowie der folgende Samstag und Sonntag sind arbeitsfrei. Während der restlichen Woche fahren wir vom Berry-Kommando jeden Tag zum Güterbahnhof, um Sand und Kies aus offenen Güterwaggons auf LKWs zu schaufeln. Die bringen dieses Material dann zu den großen Mischmaschinen, in denen der Beton hergestellt wird. Zwischendurch werden auch einige abkommandiert, um Zementsäcke umzuladen oder – was ganz übel ist – losen Zement, der in einen Betonbunker geblasen worden ist, auf LKWs zu schaufeln. Bei dieser Arbeit staubt es gewaltig, und wir werden von oben bis unten mit feinem Zement gepudert, der sich sehr schlecht wieder aus der Kleidung entfernen läßt.

Diese Arbeit bleibt das Grundmuster für die nächsten drei Wochen, so daß die Stimmung mit der Zeit nicht nur noch schlechter, sondern geradezu unerträglich wird. Bald schreien wir uns nur noch an und sind schon „auf der Palme“, wenn wir nur von jemandem angesprochen und in unseren eigenen Grübeleien unterbrochen werden. Die Jungen wagen kaum noch, einen Ton zu sagen, weil sie stets damit rechnen müssen, Opfer eines unserer Wutausbrüche zu werden.

 

Der 8. Mai wird von den Amerikanern als „Army Holiday“ begangen. Sie feiern die Kapitulation der Deutschen Wehrmacht vor einem Jahre in Reims. Da alle mitfeiern und für uns keine Aufsicht zur Verfügung steht, haben wir arbeitsfrei. Darüber sind wir sehr froh, denn ausgerechnet an diesem Tage wird das schöne Wetter nicht nur von einer kräftigen Regenperiode unterbrochen, sondern es ziehen auch mehrere Gewitter über das Rhein-Mai-Gebiet hinweg.

 

Obwohl wir unter der schweren Arbeit bei mieser Verpflegung eigentlich schon genug zu leiden haben, werden uns immer wieder neue Repressalien auferlegt. So dürfen wir ab dem 10. Mai nur noch einen Anzug besitzen, während uns nach der Genfer Konvention ein Tuchanzug und zwei Drillichanzüge zustehen, die wir in Frankreich auch erhalten haben. Die nun „überzähligen“ Sachen müssen wir am Samstag (11.05.) abgeben, der zu diesem Zweck arbeitsfrei ist. Diese Anordnung löst bei uns natürlich heftige Unruhe aus, denn wir müssen nun entscheiden, ob wir den Tuchanzug oder einen Drillichanzug behalten wollen. Ich habe noch eine Tuchhose hinter der Barackenverkleidung versteckt und entscheide mich daher für einen Drillichanzug, der für die warme Jahreszeit besser geeignet ist und sich auch leichter reinigen läßt.

 

Gleichzeitig wird die Verpflegung dadurch weiter verschlechtert, daß die Eintopfsuppen so dünn werden, daß man keinen Löffel mehr braucht, um sie zu essen, sondern sie gleich zum Brot trinken kann. Nun ist die Verpflegung in der Tat nicht mehr weit von dem entfernt, was uns Captain Coley in Giebelkstandt angedroht hat: Wasser und Brot. Damals haben wir ihn ausgelacht, nun ist uns das Lachen allerdings vergangen, denn man läßt uns bei schwerer Arbeit ganz gezielt hungern.

 

Dadurch wird die Stimmung in den Baracken natürlich immer unerträglicher und explosiver. In einer Nachbarbaracke drehen zwei Mitgefangene völlig durch, als sie in Briefen ihrer Frauen lesen, wie oft sie von den Russen vergewaltigt worden sind. Diese Nachricht hat bei den ohnehin bloßliegenden Nerven zu Wutausbrüchen und Weinkrämpfen geführt. Die ganze Nacht hindurch haben die beiden getobt oder vor Erschöpfung und Verzweiflung gewimmert und konnten überhaupt nicht mehr beruhigt werden.

 

So weit ist es in unserer Baracke noch nicht gekommen, aber auch wir sind so gereizt, daß wir wegen der geringsten Kleinigkeit in Wut geraten. Deshalb versuchen wir, einander am arbeitsfreien Samstag (11.05.) und Sonntag (12.05.) möglichst aus dem Wege zu gehen und das schöne Wetter zu einem Aufenthalt im Freien zu nutzen. Vor allem unsere drei jungen Gäste ziehen es vor, ihre Kumpels zu besuchen, statt unsere schlechte Laune zu ertragen. Die Besuchsstunde fällt an diesem Sonntagnachmittag besonders dürftig aus. Die Abgänge machen sich deutlich bemerkbar und die neuen Lagerinsassen hatten wohl noch keine Gelegenheit, in Kelsterbach irgendwelche Freundschaften anzuknüpfen.

 

Eine Ausnahme macht allerdings unser Jüngster, ein pickelgesichtiger Bubi aus Sonneberg in Thüringen. Er erzählt uns ganz stolz von einer Freundin, der Tochter eines älteren Mitgefangenen, der früher bei der Waffen-SS war. Die hat er in der Besuchsbaracke kennengelernt und sogar einmal in Kelsterbach besucht. Nun schwärmt er uns den ganzen Tag vor, was für ein „anständiges Mädchen“ die Fünfzehnjährige sei.

 

Um das zu belegen, erzählt er, sie habe eine Vorratsbox „Siver Tex Preservatives“ über ihrem Bett hängen, denn „ohne Gummi“ liefe bei ihr nichts. Als Beweis zeigt er drei Exemplare vor, die aneinander hängen und wie ein Stück vom MG-Gurt aussehen. Als wir am folgenden Sonntag dieses Prachtexemplar von einem Mädchen zu sehen bekommen, stellen wir fest, daß sie ein Kopftuch – einen sogenannten „Turban“ – trägt. Der Grund dafür ist nicht schwer zu erraten, denn hier und da lugen weiß gebleichte Stoppeln darunter hervor: sie ist nämlich von den Dorfjungen als „Negernutte“ kahl geschoren worden! Als wir ihn damit hänseln und ihn auslachen, wird er fuchsteufelswild und beschimpft uns als „Unmenschen“ die „überhaupt keine Ahnung“ hätten und bestraft werden müßten. Als es dann noch im Ofen zischt und stinkt und wir als Ursache gebrauchte Kondome finden, in die er hineinmasturbiert hat, als er Barackendienst hatte, ist unsere Geduld mit ihm am Ende und wir stellen ihm eine gehörige Tracht Prügel in Aussicht, falls er noch ein einziges Mal unangenehm auffällt.

 

Das hat zur Folge, daß er nun überhaupt nichts mehr erzählt, kaum noch mit uns spricht und sich nur im Flüsterton mit seinem „Schwiegervater“ unterhält, der ihn des Abends schon mal besuchen kommt. Wahrscheinlich schämt er sich wohl, daß er bei der Selbstbefriedigung – oder der „Tätigkeit an und für sich“, wie der Landser sagt – aufgefallen ist, und daß diese Tatsache wie auch seine Freundschaft mit dem „Neger-Liebchen“ ständig dazu benutzt werden, ihn mit anzüglichen Bemerkungen zu ärgern, sobald er nur den Mund aufmacht.

 

Immerhin können wir uns während dieser beiden arbeitsfreien Tage ein wenig erholen, so daß uns die Arbeit am Montag (13.05.) nicht ganz so schwer fällt. Leider deutet sich aber ein Wetterumschwung an und die Schönwetterperiode geht zu Ende. Heute bleibt es - von ein paar Regentropfen am Mittag abgesehen – wenigstens kühl und trocken. Das kommt uns bei der Arbeit sehr zustatten, denn sie fällt uns leichter, wenn wir dabei nicht in der prallen Sonne braten müssen. Das ganze deutsche Arbeits-Bataillon ist am Bau der großen Rundstraße beteiligt. Wir vom Berry-Kommando schaffen entweder weiter Sand und Kies heran, schaufeln das Material in die Mischmaschinen, bauen die Eisenrahmen für die Betonierung zusammen oder entfernen sie, sobald der Beton abgebunden hat. Zwischendurch gibt es auch schon mal einen Waggon mit grobem Kies zu entleeren, der sich mit unseren Schaufeln genauso schlecht befördern läßt wie der Koks. So verlegen wir uns darauf, die Steine mit den Händen auf die LKWs zu werfen. Das strengt bedeutend weniger an, als wenn wir versuchen, mit den Schaufeln zwischen die Steine zu kommen.

 

Am Dienstagmittag (14.05.) fängt es an zu regnen und hört auch bis zum Abend nicht auf. Trotzdem geht die Arbeit unvermindert weiter, so daß wir abends Mühe haben, unsere Kleidung wieder trocken zu bekommen. Auch die Marketenderware, die heute ausgegeben wird, kann unsere Stimmung nicht aufhellen. Irgendwie schlägt uns auch das trübe Wetter aufs Gemüt.

Der Mittwoch (15.05.) ist arbeitsfrei, weil wieder einmal keine Aufsicht zur Verfügung steht. Doch dann geht die Arbeit bei wechselhaftem Wetter weiter bis Samstagmittag (18.05.). Den arbeitsfreien Nachmittag können wir dann bei strahlendem Sonnenschein im Freien verbringen.

 

Auch am Sonntag (19.05.) scheint den ganzen Tag die Sonne. Aber die Verpflegung ist mies und die Stimmung nicht minder. Ein Gottesdienst findet nicht statt. Wir bleiben wieder einmal mit allen Beschwernissen uns selbst überlassen. In dieser Stimmung schreibe ich nachmittags während der Besuchszeit, als unsere Baracke fast leer ist, einen Brandbrief nach Hause, in dem ich unsere Lage wie folgt schildere:

„Hier geht alles seinen alten Trott weiter: die Arbeit reißt nicht ab, die Kost wird immer schmaler, von Entlassung keine Spur! Mit der Verpflegung ist es ein wahres Trauerspiel. Heute mittag war das Essen einigermaßen, dafür gab es seit Donnerstag – wenn man es kraß ausdrücken will – nur Wasser und Brot. Für die Suppen braucht man keinen Löffel und keine Zähne, die Morgensuppen gleichen Magermilch oder Kalkwasser, mittags sind sie etwas dicker, abends sind sie besseres Spülwasser. Dazu gibt es 300 bis 400 g Weißbrot pro Tag und manchmal etwas Rührei, Fisch oder Käse. Daß man dabei jeden Tag weniger wird, ist kein Wunder. Die letzten vier Wochen habe ich ganz schön abgenommen. Das ist die augenblickliche Lage. – Seht doch mal zu, daß ihr mir etwas schickt. 500 g-Päckchen gehen ja auch über die Zonengrenzen und Expreß-Pakete dürfen auch schwerer sein.“

Obwohl mir meine Angehörigen mehrfach schreiben und auch zwei Päckchen schicken, bekomme ich davon nichts zu sehen, denn über das Bürgerhospital scheint keine Post mehr durchzukommen.

 

Montag, der 20. Mai, ist dann mein 400. Tag hinter Gittern. Bei schönstem Sonnenschein müssen wir vormittags eine Waggon Splitt ausladen. Diese Arbeit zieht sich bis zur Mittagspause hin. Der Nachmittag ist arbeitsfrei, so daß wir im Freien die Sonne genießen können. Dafür wird an den nächsten vier Tagen aber wieder stramm durchgearbeitet, obwohl es am Donnerstag (23.05.) den ganzen Tag über regnet und zwischendurch auch donnert und blitzt und am Freitag (24.05.) ein schweres Gewitter über uns hinwegzieht. Erst am Samstag wird das Wetter wieder so schön wie zum Wochenanfang.

 

Am Samstagmorgen (25.05.) geht Stabsfeldwebel Utsch von Baracke zu Baracke und verkündet. „Die Kompanie 8050 bleibt heute auf Befehl des Kommandanten im Lager.“ Um 10 Uhr kommt dann eine Abordnung des Arbeitsamtes Frankfurt und der Firma Philipp Holzmann zusammen mit einem amerikanischen Oberleutnant ins Lager. Sie stellt uns in Aussicht, am 31. Mai entlassen zu werden, wenn wir uns dienstverpflichten lassen. Wir könnten dann zu Pfingsten im Urlaub zu Hause sein, erklärt man uns. Wer sich allerdings der Dienstverpflichtung verweigere, der werde auch nicht entlassen. Obwohl das eine eindeutige Nötigung ist, gibt es für uns kein Überlegen mehr, und alle lassen sich mit Namen und Berufen registrieren. Wir wollen endlich nur noch raus aus diesem Arbeitssklaven-Elend.

 

Hochzufrieden reist die Kommission wieder ab, und wir warten nun gespannt darauf, was geschehen wird. Der total verregnete Sonntag (26.05.) bringt keine neuen Erkenntnisse. Es gibt keinen Gottesdienst im Lager, und der Aufenthalt im Freien ist bei dem Regen unmöglich. So sind wir froh, daß unsere jungen Gäste ihre Kumpels in anderen Baracken besuchen und wir „Alten“ uns einmal in Ruhe über die neue Lage aussprechen können.

 

Am Montag (27.05.) wird die Arbeit in gewohnter Weise wieder aufgenommen, gerade so, als sei nichts gewesen. Abends geht allerdings das Gerücht um, daß unsere Verpflegung erneut gekürzt und die tägliche Kalorienmenge auf das Niveau der mit dem heutigen Beginn der 89. Zuteilungsperiode für Normalverbraucher festgesetzten 1176 Kalorien abgesenkt wird. Das bedeutet, daß die Brotration für die nächsten vier Wochen auf 4 kg beschränkt wird. Dadurch soll der Druck auf uns, einer Dienstverpflichtung zuzustimmen, offenbar noch verstärkt werden. Diese Nachricht paßt genau zu dem trüben, diesigen Wetter des Tages und drückt noch zusätzlich auf unsere ohnehin getrübte Stimmung. Einerseits ärgern wir uns, daß wir der Kommission zu schnell auf den Leim gegangen sind, andererseits sagen wir uns, daß es höchste Zeit ist, aus dieser ständigen Unterdrückung endlich herauszukommen, wenn wir nicht doch noch dem Lagerkoller erliegen und verrückt werden wollen. Wandelnde Nervenbündel sind wir ohnehin bereits geworden.

 

Am Dienstag (28.05.) fahre ich mit dem Verladekommando nach Homburg. Dort holen wir einige reparaturbedürftige Jeeps ab, die auf dem Flughafen wieder flott gemacht werden sollen. Am Mittwoch (29.05.) arbeite ich zum letzten Mal als Betonwerker, und das bei brütender Hitze und völlig unzureichender Verpflegung.

 

 Am Himmelfahrtstage (30.05.) hängt dann morgens am Schwarzen Brett in der Aufsichtsbaracke eine Liste, auf der alle verbliebenen Angehörigen der Utsch-Kompanie – es sind immerhin noch 192 Mann – namentlich aufgeführt sind. Und zwar werden wir auf drei Transporte verteilt, zwei zu je 75 Personen und einer für die restlichen 42 Mann. Alle Aufgeführten werden aufgefordert, sich am Freitag, dem 31. Mai 1946, ohne Gepäck zum Abtransport in das Entlassungslager nach Babenhausen bereit zu halten.

 

Am Freitagmorgen packen wir nach dem Frühstück sofort unsere Seesäcke und bringen sie in einen Lagerraum der Kommandobaracke. Kurz vor acht Uhr wird der erste Transport aufgerufen und die drei LKWs verlassen pünktlich um acht Uhr das Lager. Ich gehöre zum zweiten Transport, der um 10.15 Uhr aufgerufen wird und um 10.30 Uhr losfährt. Wenn wir dachten, in Babenhausen zügig entlassen zu werden, so hatten wir nicht mit der schwerfälligen Bürokratie der US Army gerechnet, denn erst am Freitagmorgen (07.06.) um 10.25 öffnet sich für uns endlich das Tor in die Freiheit. Dafür ist von einer Dienstverpflichtung überhaupt keine Rede mehr, und ich kann mir nicht vorstellen, daß überhaupt jemand von uns nach Frankfurt zurückgekehrt ist, um bei der Philipp Holzmann AG als Zwangsarbeiter anzuheuern.

 

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Das war vor nunmehr fast 57 Jahren!

 

Und wenn mir heute Nachgeborene (Politiker, durch die „Frankfurter Schule“ getrimmte „68er“, „Umerzogene“, Politisch korrekte Zeitgeist-Surfer oder sonstige Phrasendrescher), die nicht den blassesten Schimmer einer Ahnung von den damaligen Verhältnissen haben, erzählen, was wir Deutschen den Amerikanern alles zu verdanken haben, so kann ich – auch im Namen Hunderttausender meiner Altersgruppe – schlicht und einfach nur antworten: „Ich verdanke ihnen nur eines: die unerfreulichste Zeit meines Lebens!“

 

So lautet das Urteil der Erlebnisgeneration. Und sie weiß gewiß, wovon sie redet!

 

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