Wiedersehen mit Rheinberg

 

 

 

 

Es ist fast nicht begreifen – in jener Stadt Rheinberg, in der ich  1945 in Drecklöchern gehaust und gehungert habe, beziehe ich ein feines Hotelzimmer und mache es mir gemütlich. Das ist über fünf Jahrzehnte später!

Das kam so: am 15. April 1945 –ein Sonntag- mußte ich mich im Brückenkopf Barby an der Elbe den vordringenden amerikanischen Truppen in Hohenlepte  ergeben.  Das Endsiegen war aussichtslos geworden. Wir waren meistens 17-jährige Soldaten der Nachrichtentruppe, also das letzte Aufgebot der Armee Wenck, denn die Offensive auf Berlin durch die Rote Armee stand bevor.

Glück gehabt, das war die damalige Parole: den zu Ende  gehenden Krieg überlebt und in westliche Gefangenschaft geraten. Doch das erwies sich später auch  nicht als Haupttreffer. Die erste Nacht verbrachten wir in einer Scheune bei Barby, dann ging die Fahrt weiter auf den berüchtigten Sattelschleppern der Amis. Für etwa 60 boten  sie  Platz, stehend zusammengepfercht wie die Heringe,  doch  mindestens 130 waren wir auf den Fahrzeugen. Und wenn der Fahrer mit Bravour in eine Kurve ging, brach nicht selten die Bordwand  und Dutzende stürzten auf die Straße. Na und? Brackwede bei Bielefeld war die nächste Station. Wer noch etwas Verpflegung hatte, dem ging es gut. Vielleicht tauschte er noch seine „Eiserne Ration“ gegen Zigaretten. Die meisten hatten nichts – denn unmittelbar bei der Gefangennahme waren wir alles losgeworden:  Uhren, Geld, Papiere, Taschenmesser und den letzten Löffel, der später Gold  wert war.

Am 24. April war dann Rheinberg die Zwischenstation. Auf freiem Feld, bewachsen mit jungem Getreide, wurden wir entladen. Kein Lager, kein Zaun, nichts – nur rumschreiende und prügelnde Wächter, die Pfosten einschlugen und weiße Bänder zogen. An den Ecken jeweils  GI’s mit Gewehren und da lagen wir nun. Weder Verpflegung noch etwas Wasser wurde uns gegeben  – die Nacht deckte uns bald zu.

Noch war ja Krieg, das hatte mancher vergessen. Das sog. B-Lager war meine erste Station. Und am nächsten Tag gab es offiziell die erste Verpflegung. Jeder eine  kleine Dose mit Diner oder Breakfast – nur etwas, den Magen zu verulken. Stumpfsinnig verbrachten wir die Tage, schaufelten mit leeren Dosen Löcher in den kargen Boden, denn  wo die  grünen Getreidepflanzen nicht gerupft oder gegessen waren, hatten Zehntausende den Rest zertreten. Die Ruhr griff um sich, mancher fiel vor Entkräftung um. Nicht selten wurden an einem Tage aus einem Cage 70 oder 80, oft bis 100 Tote hinausgetragen, lediglich in Gruben geworfen und mit Kalk bestreut. Keiner zog die Skelette aus, keiner nahm ihre Erkennungsmarke, wenn sie eine hatten. Gestapelt fanden sie ihre letzte Ruhe. Üblich war es, die Toten erst nach der Verpflegungsausgabe zu melden, da waren sie noch mitgezählt.

Mit Befriedigung erinnerte ich mich immer nach vielen Jahren,   daß inmitten des Lagers ein Bauernhof stand, und in dessen Nähe wir eines Tages eine Futterrübenmiete entdeckten, die uns zusätzlich „Magenfüllung“ brachte. Zum Verständnis meine Notiz im Tagebuch am 11.5.1945:

„Verpflegung heute 2 Löffel Corned Beef, 1 Löffel Tomatenmark, 1 Löffel Zucker, 1 Löffel Erbspulver, 1 Löffel Kaffeepulver, 1 Löffel Brausepulver, und  2  Löffel Trockenkartoffeln. Alles gemixt in der Büchse und aufgegessen.“ Und dafür war eben ein Löffel nötig! Daß auch noch auf dem Annaberg inmitten des Lagers die Kirche stand, interessierte kaum jemanden – weil da auch nichts zu essen zu holen war.

Nachdem man mir in den ersten Maitagen meinen Mantel geklaut hatte, unter dem ich immer in meinem Erdloch schlief, erhielt ich nach langem Betteln vom Lagerarzt einen Schein für einen neuen – den zog ich lieber gar nicht mehr aus. Die erste Nacht ging ich nur spazieren, um ihn sicher zu behalten.

Parolen eilten täglich von Hundertschaft zu Hundertschaft – doch die wirklich entlassen wurden, waren leichter zu zählen, als die täglichen Toten. Am 2. Mai schon, so habe ich notiert, fing es an zu regnen und verwandelte Rheinberg in eine Schlammlandschaft. 14 Tage lang hielt der Regen an und hinterließ bis heute die schlechtesten Erinnerungen.

An Entlassung war nicht zu denken, ich war kein Landwirt, kein Eisenbahner und  überdies wohnte ich in der damaligen Russen-Zone. Auch Bergleute suchte man –  ebenfalls aussichtslos für mich!

Am 26. Mai öffneten sich jedoch die Tore des inzwischen errichteten A-Lagers in Rheinberg und in offenen Eisenbahnwaggons begann die Fahrt Richtung Westen. Krefeld passierten wir, später Mönchen-Gladbach und bei Herzogenrath verließen wir  Deutschland. In Belgien  war unser Ziel Erbisoeul bei Mons. Ein Lager mit Zelten, mit regelmäßiger Verpflegung und etwas geordneter als das Todeslager Rheinberg. Später dann weiter „transferiert“ nach Frankreich zur Arbeit in der Landwirtschaft und in Kohlegruben.

Nun sah ich Rheinberg wieder: über fünf Jahrzehnte später. Mit Heinz Janssen von der Stadtverwaltung durchfuhr ich das ehemalige Lagergelände,  jetzt mit schmucken Häusern bebaut. Die Annabergkirche in schlichtem weiß und auf dem Friedhof ein Gedenkstein, den die Stadt zu Ehren der unbekannten Toten hat errichten lassen. Nach Schätzungen schwankt die Zahl zwischen 3000 und 5000. Niemand hat sie gezählt, sie wurden in Massengräbern beerdigt. Keiner schrieb ihre Namen auf, keiner nahm ihre Erkennungsmarken ab.

Im Stadtarchiv Rheinberg konnte ich vieles über das Hungerlager sehen, lesen und studieren. Ehemalige Kriegsgefangene der alten Bundesländer haben das schon vor 40 Jahren möglich machen können. Ich bin den Rheinbergern dankbar, daß sie dieses Andenken in Ehren halten. Dafür habe ich auch meine spärlichen Tagebuchaufzeichnungen  dem Stadtarchiv überlassen.

Können Sie verstehen, welche Gedanken mich bewegten, als ich abends in einem Hotelzimmer in Rheinberg saß?

Tausende haben Rheinberg nicht überlebt – ich konnte vier Jahre später, aus Frankreich  Weihnachten 1948 entlassen, meine Heimat und meine Familie wiedersehen.

 

 Dietrich Kienscherf, Neubrandenburg /Meckl.

 

 

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